
Um den knapp bemessenen, 24-monatigen Zeitrahmen des Projekts einzuhalten, mussten die geplanten Änderungen straff kontrolliert und überwacht werden. Dadurch sollte verhindert werden, dass sich das Projekt quasi unter der Hand ausweitete. Alle empfohlenen Änderungen in den Prozessabläufen sollten möglichst ohne zeitliche Verzögerung vom Steuerungskomitee geprüft und genehmigt werden. Der Bundesstaat und BearingPoint setzten für das Projekt mehr als 250 Vollzeitkräfte ein. Grundlegende Änderungen im Prozessablauf sollten unter anderem die folgenden Bereiche betreffen:
- Beschaffung: Eine rationalisierte Beschaffung von Lieferungen und Dienstleistungen für die Behörden
- Bilanzwesen: Echtzeit-Ergebnisse über finanzielle Buchungen und Anpassungsvorgänge im Bilanzsystem
- Haushalt: Eine zentrale Datenbank für die Daten und Texte der Haushaltsplanung
- Personalwesen: Weniger Einzelschritte bei der Genehmigungsprozedur innerhalb der Personalverwaltung
- Lohn- und Gehaltsliste: Online-Zugang zu den aktuellen Auszügen für die Löhne, Gehälter und Lohnnebenleistungen sowie zu den Daten der alten Lohn- und Gehaltslisten.
Bewertungskriterien und die Strategie “Trainer trainieren”
Es zeigte sich bald, dass das Steuerungskomitee nicht umhin kam, Kriterien für die Bewertung von Änderungsvorschlägen festzulegen. Änderungswünsche mussten zum Teil auch abgelehnt werden. Das Komitee legte für die Bewertung von Änderungsvorschlägen acht Kriterien fest:
Änderungen können nicht durchgeführt werden, wenn
- dafür im Zeitrahmen der Implementierung Bestimmungen und Gesetze nicht geändert werden können,
- politische Grundsätze nicht rechtzeitig geändert werden können,
- sie die Kernaufgaben der Behörden nicht unterstützen,
- sie nicht zur vereinbarten Strategie “Case for Change Vision” (Plan, nach dem eine Veränderung als notwendig erachtet wird) passen,
- sie nicht mit externen Bedingungen konform gehen unter denen die Behörden operieren – das gilt sowohl für bundesstaatliche wie für US-Bestimmungen,
- sie das Niveau der öffentlichen Dienstleistungen beeinträchtigen,
- sie nicht mit den Tarifverträgen der einzelnen Behörden harmonieren und
- sie nicht die Normen der allgemein anerkannten internen Kontrollmechanismen erfüllen oder sie das Prinzip der Trennung von Pflichten verletzen.
Im Juli 2003 waren bereits drei Phasen des Projektes “Imagine PA” realisiert. Über 90 Prozent der Prozessabläufe sind neu geplant und vom Steuerungskomitee genehmigt worden. Im Rahmen der Strategie “die Trainer trainieren” wurden mehr als 100 staatliche Beschäftigte in Workshops ausgebildet. Diese Trainer bildeten dann mehr als 16.000 Endbenutzer in staatlichen Behörden aus. Die Beschäftigten lernten mit Funktionen aus den Bereichen Haushalt, Beschaffung, Finanzen und Reiseplanung zu arbeiten. Die Ausbildungseinheiten wurden in Unterrichtsräumen und als computerbasiertes Training durchgeführt. Die Trainer sind derzeit auch damit befasst, die Meinungen der öffentlich Beschäftigten zur zukünftigen Arbeitsverteilung und zu den Sicherheitsprofilen für das SAP-Umfeld auszuwerten. Am 1. Juli wurde das System freigeschaltet. Mittlerweile arbeiten 52 bundesstaatliche Behörden und Ämter mit Funktionen aus dem Bereich Beschaffung, Budgetierung, Workflow und Reiseplanung. Das Projekt liegt im Zeitplan und ist innerhalb des Budgets.
Verzögerungen und Haushaltsprobleme
“Imagine PA” ist das erste groß angelegte ERP-Projekt im Bereich öffentlicher Verwaltungen und wirft deshalb einige interessante Fragen auf. Es ist oft behauptet worden, dass öffentliche Verwaltungen sich gegen organisatorische Veränderungen sperren, die Voraussetzung für die Umsetzung eines ERP-Projektes sind. Auch in Pennsylvania gab es anfangs negative Einstellungen bei einigen Beschäftigten. Einige Behörden überlegten sogar, ob sie überhaupt mitmachen wollten. Für die Beschäftigten im Bereich der öffentlichen Verwaltungen war es zunächst auch ein Problem, dass sie für dieses Projekt die ihnen fremde SAP-Terminologie lernen mussten. Sobald sie aber den Umgestaltungsprozess als unvermeidlich ansahen und ihnen klar wurde, dass sie ein echtes Mitspracherecht bei der Neugestaltung haben würden, beteiligten sich die meisten gerne an dem Projekt. Umfassende Kommunikation, Information und Weiterbildung trugen dazu bei, die Ängste der Beschäftigten abzubauen.
Als im Bundesstaat Pennsylvania das Wirtschaftswachstum zurückging und die Haushaltsüberschüsse schwanden, versuchten Abgeordnete, die von ERP-Systemen wenig verstanden, den Haushaltsposten des ERP-Projektes in Frage zu stellen. Weil sich aber der Gouverneur für das Projekt stark machte, konnte das jährliche Projekt-Budget immer wieder neu in den Haushalt eingebracht werden.
Vorteile für die öffentliche Hand und die Bürger
Der Bundesstaat Pennsylvania arbeitet nach drei viertel der Umsetzung des ERP-Projektes mit neuen Prozessabläufen im Bereich Finanzwesen, Haushalt, Beschaffung und Reiseplanung. Das Projekt trägt bereits erste Früchte. Der Lebenszyklus beschaffter Güter und Dienstleistungen ist jetzt in Prozessabläufe aus dem Bilanz- und Haushaltswesen eingebunden. Dadurch kann der Bundesstaat seine volle Nachfragemacht ausschöpfen. Abgeordnete und Verwaltungsbeamte wissen mittlerweile, dass alle Informationen zentral verwaltet werden. Da nun ein besserer Überblick besteht, ist das Interesse erwacht, die Beschaffungs-Bestimmungen zu überprüfen. Mit verbesserten Bestimmungen könnten jedes Jahr mehrere 100 Millionen US-Dollar eingespart werden. Zum ersten Mal arbeiten alle in der bundesstaatlichen Regierung und Verwaltung für die Budgetierung mit ein und derselben Datenbank. Lieferanten werden deutlich pünktlicher bezahlt. Im Durchschnitt sind Rechnungen nach 28 Tagen bezahlt. Der Bundesstaat kann dadurch öfter die Vorteile von Preisnachlässen bei vorzeitiger Zahlung in Anspruch nehmen. Sobald die Selbstbedienungs-Anwendung für Lieferanten freigeschaltet ist, haben Lieferanten die Möglichkeit, ihren Rechnungsvorgang im behördlichen Prozess zu verfolgen.
Je weiter das Projekt vorankommt, desto deutlicher wird, welche Vorteile die Zusammenführung aller Behördenabläufe mithilfe einer einzigen Datenbank in Echtzeit mit sich bringt. Wenn Bürger mit dem Web-Frontend von SAP verbunden sind, können sie Online-Anträge auf Straßenreparatur stellen und diese im System verfolgen. Firmengründer werden in die Lage versetzt, über das Web-Portal erforderliche Formulare auszufüllen und abzuschicken. Früher mussten sie dafür persönlich fünf verschiedene Behörden oder Ämter aufsuchen. Neubürger in Pennsylvania können sich künftig online ein Profil erstellen lassen, das ihre Daten mit sämtlichen für sie in Frage kommenden bundesstaatlichen Programmen abgleicht.
Es wird behördenintern ein Online-Ausschreibungsverfahren geben. Die Anforderung, der Erhalt und die Genehmigung von Bestellungen – also der Workflow – werden zusätzlich automatisiert. Der Bundesstaat besitzt bereits ein funktionierendes Data Warehouse, das für das Rentensystem der Beschäftigten mit einer Anwendung aus dem Bereich Customer Relationship Management (CRM) verbunden wird. Der Erfolg des ERP-Projektes in Pennsylvania zeigt, dass die Prozessabläufe bei öffentlichen Verwaltungen und Ämtern gar nicht so verschieden von denen privater Unternehmen sind, obwohl das oft behauptet wird. Beschäftigte aus dem Bereich öffentlicher Verwaltungen können motiviert werden bei den Veränderungen mitzuwirken, die für eine erfolgreiche Umsetzung einer ERP-Lösung Voraussetzung sind.
Projekt-Erfahrungen
Die bei der Umsetzung des ERP-Projektes “Imagine PA” gemachten Erfahrungen zeigen, dass trotz einiger Probleme die Zeit für den Einsatz von ERP-Technologie bei öffentlichen Verwaltungen und Regierungsbehörden reif ist. Die Implementierung einer solchen Lösung im Bereich öffentlicher Verwaltungen verläuft vielfach ähnlich wie bei privaten Unternehmen. Es gibt aber aus dem Projekt in Pennsylvania einige Lehren zu ziehen:
1) Im Bereich öffentlicher Verwaltungen gibt es kaum Unterstützung für ERP-Lösungen, weil man dort wenig über diese Technologie weiß. Es gibt kaum Interesse an einer “Integration von Geschäftsprozessen”, weil das vorher noch nie gemacht wurde und beispielsweise die Sanierung von Straßen und Brücken normalerweise Priorität genießt. Will man ein ERP-Projekt durchführen, muss man einen starken Förderer aus dem öffentlichen Bereich finden und bei den teilnehmenden Behörden und Ämtern um Unterstützung werben.
2) Man muss dafür sorgen, dass die Anwender bei der Neugestaltung ihrer Prozessabläufe ein Mitspracherecht haben. Wenn Behörden und Anwender ein echtes Mitspracherecht bei der Entscheidungsfindung haben – sie zum Beispiel Anbieter mit auswählen können und Abläufe neu gestalten können – werden sie eher zu begeistern sein und mehr Engagement zeigen. Es ist wichtig, dass auch die Technik-Mitarbeiter genau verstehen, was eine Neugestaltung von Geschäftsprozessen bedeutet.
3) Am besten fängt man mit den Prozessabläufen des Haushalts, des Finanzwesens und der Beschaffung an. Diese müssen stabil laufen, bevor man Prozesse im Personalwesen angeht. Die Stabilisierungsperiode muss großzügig bemessen sein.
4) Stellen Sie Hilfsteams vor Ort auf, die in der Lage sind, bei allen Behörden und Ämtern auf die Probleme der Endanwender einzugehen. Für jede größere Behörde sollte im Rahmen der Hauptumsetzung ein dem Projektteam der Behörde genau nachgebildetes Team eingesetzt werden.
5) Bereiten Sie so viel wie möglich vor der eigentlichen Implementierung vor. In Pennsylvania war entscheidend, dass die funktionalen Anforderungen an das neue System mit den Gesetzen, Geschäftsbedingungen, politischen Grundsätzen und Prozeduren abgestimmt waren, die von dem System tangiert werden. Justiziare der Behörden wurden beauftragt, die Neugestaltung der Prozessabläufe vom juristischen und gesetzlichen Standpunkt aus zu validieren.
6) Man sollte “Trainer trainieren”, also die Ausbildung zentral von oben nach unten delegieren. Einzelne Behörden und Ämter sollten jedoch im Falle eigentümlicher Prozesse wie dem Zeitmanagement für die Ausbildung der eigenen Anwender verantwortlich sein.
7) Kommunizieren Sie unentwegt. Unterstützung und allgemeines Interesse für das Projekt erhalten Sie insbesondere dann, wenn Gruppen bei der Auswahl des Anbieters mitwirken können. Eine gut gestaltete Website für das Projekt kann als Portal fungieren und stets aktuell über das Projekt informieren.
8) Setzen Sie ein Steuerungskomitee ein, das aus Beschäftigten der Schlüsselbehörden besteht und das Bewertungskriterien für gewünschte Änderungen des Prozessablaufes erstellt.
9) Erwarten Sie nicht, dass die Nachfragemacht der gesamten Verwaltung so stark wie bei privaten Unternehmen steigt. Die Beschaffungsregeln werden zwar verändert, aber behördliche Bestimmungen verhindern, dass die neu zusammengeführten Beschaffungsprozesse in vollem Umfang ausgenutzt werden können.
10) Rechnen Sie mit fortlaufenden Verbesserungen am System. Im Falle von “Imagine PA” gab es nach Testläufen mit den Benutzern über 800 Veränderungsempfehlungen. Die Arbeitsverteilung im Bereich Lohn- und Gehaltsliste sowie Reiseabrechnung musste in einigen Fällen geändert werden. Wenn sich die Benutzer aber erst einmal an die radikal veränderten Prozesse des Projektes “Imagine PA” gewöhnt haben, werden sie zunehmend von den integrierten Informationsprozessen profitieren.
Teil 1
