Herr Martin, was ist der Nutzen von Business Process Management und EAI?
Martin: Das EAI-Forum 2004 steht unter dem Motto Business Integration. Unter Business Integration versteht man Integration auf vier Ebenen: Der Daten, der Anwendungen, der Prozesse und der Mitarbeiter. Das Ziel von Business Integration sind durchgängige, automatisierte und synchronisierte Prozesse quer über Funktions- und Abteilungsgrenzen bis hin zu gemeinsamen Prozessen, die das Unternehmen mit seinen Handelspartnern, Lieferanten und Kunden verbinden. Auf diese Weise entstehen Echtzeit-Unternehmen, wie man sie schon mit der Einführung von ERP-Systemen vor 10 Jahren schaffen wollte.
Die Wettbewerbskraft von Unternehmen liegt in den Prozessen. Der Nutzen von Business Integration liegt daher in der Innovation und Automation von Geschäftsprozessen. Bei Business Integration steht das “Geschäft” im Vordergrund. Technologie ist eine Voraussetzung, aber BPM und EAI Projekte sollten nicht technisch und technologisch begründet sein. Es kommt auf den Business Case an.
Wie geht man ein Integrationsprojekt am besten an?
Martin: Business Integration sollte Schritt für Schritt aufgebaut werden. Ein Big-Bang à la ERP-Implementierung ist unbedingt zu vermeiden. Ein erster Business Case dient als Start des Transformationsprozesses vom traditionell funktional-orientierten zu einem prozess-orientierten Unternehmen. Als Business Case eignen sich am besten Prozesse, die hohe Kosten verursachen und auch personalintensiv sind, Prozesse, die nicht durchgängig organisiert sind und noch viel “Handarbeit” benötigen. Manche Unternehmen schaffen es sogar, mit den Einsparungen aus einem initialen Business Case das darauf folgende Projekt zu finanzieren. Das Budget für eine Transformation des Unternehmens beschränkt sich dann auf eine Anschubfinanzierung.
Ein Business Case lässt sich innerhalb von drei bis sechs Monaten umsetzen. Häufig reduzieren sich die Prozesskosten um 30 bis 40 Prozent. Das beweisen besonders Studien in den Bereichen Ausgaben-Management und Vendor Managed Inventories. Schwierigkeiten bereitet allerdings vielfach die Erfassung der heutigen Ist-Kosten, da deutsche Unternehmen in aller Regel keine Prozesskostenrechnung haben. “Saubere” ROI-Rechnungen sind dann – wenn überhaupt – nur schwierig zu erstellen.
Welche Rolle spielt das Change Management?
Martin: Change Management spielt in der Tat eine große Rolle, da mit Business Integration die Transformation des Unternehmens von einer Funktional-/Abteilungs-Organisation in eine prozeß-orientierte Organisation verbunden ist. Damit wird die Organisation noch flacher und die Eigenverantwortung des Mitarbeiters steigt. Damit steigen natürlich auch die Anforderungen an das Profil des Mitarbeiters. Kern einer prozess-orientierten Organisation ist ein Prozess-Trägermodell (amerikanisch: process ownership), bei dem die Verantwortungen jedes Mitarbeiters für die Ausführung und das Managen aller Aktivitäten in allen Prozessen festgelegt wird. Change Management ist hier essentiell und im Endeffekt ein Prozess, der wie jeder andere Geschäftsprozess per BPM gefahren, gemessen überwacht und gesteuert wird.
Herr Thaler, welche Voraussetzungen müssen für BPM in einem Unternehmen gegeben sein?
Thaler: Kurzfristige Erfolge mit “lokalen” Optimierungslösungen dürfen nicht den Blick auf das Ziel einer möglichst effizienten Integration und Durchgängigkeit aller relevanten betrieblichen Leistungsprozesse verwehren. Es geht bei BPR um eine strategische Umgestaltung. Daher müssen Strategien und Geschäftsmodelle, Leistungsprozesse und Organisation, Informationsversorgung und Informationstechnologie in einem Gesamtzusammenhang betrachtet werden. In der ersten Phase eines BPM-Projekts geht es darum, eine Vision für die Gestaltung der Business Prozesse zu erarbeiten und die Machbarkeit des Zukunftskonzepts zu untersuchen. In der zweiten und dritten Phase ist es wichtig detailliert zu erarbeiten, von welchen Prozess-Leistungskennzahlen in den Ist-Abläufen ausgegangen werden muss und wie sich ausgewählte Key Performance Indicators verbessern lassen. Hierfür sind Benchmarks und Schwachstellenanalysen das geeignete Instrumentarium. Die Transformation der Prozesse sollte in Phase vier möglichst mit Referenzmodellen fundiert umgesetzt werden. Die Mitarbeiter sollen einbezogen und nicht ausgegrenzt werden. In Phase fünf muss der Anstoß zu einer kontinuierlichen Verbesserung gegeben werden. Abschluss eines vorbildhaften BPR-Projekts bildet der Nachweis, dass die gesteckten Ziele erreicht wurden.
Wo machen “Standard-Geschäftsprozesse” einen Sinn?
Thaler: Mit “Standard-Geschäftsprozessen” lassen sich Kosteneinsparungen in denjenigen Unternehmensbereichen erzielen, in denen bewährte fach- oder branchenbezogene Leistungsmodule als Defakto-Standard übertragbar oder replizierbar sind. Dies senkt vor allem in den Phasen zwei, drei und vier den Gesamtaufwand und die Durchführungsdauer. Die Zahlungsabwicklung, die Auftragsgewinnung über das Web oder eine Statusabfrage des Auftragsstands sind beispielsweise heute sehr nachgefragte Standard-Geschäftsprozesse, für die viele IT-Anbieter passende Referenzmodelle und Module liefern. Der Vorteil von Standard-Geschäftsprozessen liegt ganz wesentlich in der schnelleren Umsetzung hin zur lauffähigen Lösungen, denn das Rad muss ja nicht immer neu erfunden werden. Mit Hilfe von Standard-Geschäftsprozessen ließ sich in einzelnen Projekten die Durchführungsdauer nahezu halbieren und der Gesamtaufwand um bis zu 40 Prozent reduzieren.
Wo liegen Stolpersteine, wenn Geschäftsprozesse über Unternehmensgrenzen hinweg integriert werden?
Thaler: Der größte Stolperstein liegt eigentlich häufig noch in den Köpfen. Oft wird verkannt, dass eine Supply Chain aus unterschiedlicher Unternehmen und Akteuren eigentlich nur so gut sein kann wie es das schwächste Glied in der Kette erlaubt. Potenziale übergreifend und gemeinschaftlich zu erschließen erfordert zunächst vor allem Vertrauen und ein partnerschaftliches Projektkonzept. Externe Projektbegleitung kann helfen, die sensiblen Phasen zielorientiert zu bewältigen und die gemeinsam erreichbaren Potentiale aus neutraler Sicht zu beziffern. Erfahrungen aus Projekten zeigen, dass gerade trotz oder wegen des Anspruchs an eine “Seamless Integration” dabei noch genügend Störgrößen – sowohl technologisch als auch organisatorisch – zu optimieren sind. Die Potenziale, die durch Elimination von Doppelarbeiten, Redundanz oder Abstimmungsproblemen in kollaborativen Anwendungen entfallen, werden noch vielfach unterschätzt, wie aktuelle Studien zeigen. Bull-whip Effekte, also Mehrkosten durch Aufschaukelungseffekte, Auftragsspitzen und resultiernde hohe Bestände werden häufig noch hingenommen und “verschwinden” in “geschützen” Gemeinkostensätzen. Neue integrative Verfahren über Unternehmensgrenzen einzuführen löst allerdings nicht das Problem, dass sich Organisationen anpassen müssen: ein Gedanke, der einigen Traditionalisten in fachbezogenen “Fürstentümern” oft wenig behagt. Maßnahmen zu einem durchgängigen Process Ownership unterstützten dabei die Abkehr von suboptimalen Bereichstrukturen hin zur tatsächlichen Prozessintegration.