Die Verantwortlichen der Stadtwerke Hannover hatten schon Ende der 90er Jahre erkannt, dass bezüglich der Abrechnungen grundlegendes Umdenken gefragt war. Verantwortlich hierfür war die neue Binnenmarktrichtlinie der Europäischen Union (EU) und die darauf folgenden Verbändevereinbarungen VVI, VVII und VVII-plus, im Jahr 2005 abgelöst durch eine Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes. Bislang hatten die Energieversorgungsunternehmen (EVU) ihre Abrechnungen im Wesentlichen auf Basis von Abnahmestellen und Zählern durchgeführt. Welcher Kunde sich hinter den Abnahmestellen verbirgt und welche Leistungen dieser Kunde sonst noch in Anspruch nimmt, war nicht von primärem Interesse, da durch die Monopolstellung der EVU der Nutzer einer Abnahmestelle zwangsläufig auch ein Kunde war.
Im liberalisierten Markt hingegen kann der Kunde seinen Energieversorger frei wählen. Folglich steht er jetzt im Zentrum aller vertrieblichen Aktivitäten – und für die EVU ist es jetzt wichtig zu wissen, welche Kunden in welchen Sparten welchen Erlös bringen. Deswegen sollten Kunden nicht länger ausschließlich über Abnahmestellen definiert sein. Dieser Anforderung, die sich unmittelbar auch auf die IT niederschlägt, war die alte Host-basierte Lösung der Stadtwerke Hannover nicht mehr gewachsen. Es galt eine Lösung zu finden, die den Kunden stets als zentrale Einheit betrachtet und es ermöglicht, die Unternehmensprozesse – Marketing und Vertrieb, Abrechnung und Zahlungsmanagement, Zählerlogistik und Messdaten – optimal auf die Belange der Kunden auszurichten.
Die Wahl fiel auf die Branchenlösung SAP R/3 IS-U/CCS, heute SAP for Utilities. Diese Auswahl bedeutete die konsequente Verfolgung der Plattformstrategie SAP R/3. Das Unternehmen kann mit der SAP-Branchenlösung für Versorgungsunternehmen Synergieeffekte nutzen, etwa durch eine Integration in das bestehende SAP R/3 Classic System oder über die Anbindung an das SAP Business Information Warehouse (SAP BW). Darüber hinaus hatte sich aus der Sicht von enercity die SAP-Branchenlösung zum “De-facto-Standard” in der Versorgungsindustrie entwickelt.
Der Schlüssel des Erfolgs: Die richtige Projektorganisation
Im Herbst 2001 startete enercity das für das Unternehmen größte DV-Projekt der vergangenen 15 Jahre. Als Partner für die Durchführung wurde die bicon Unternehmensberatung GmbH aus Hamburg beauftragt. In Spitzenzeiten bereiteten bis zu 120 Mitarbeiter aus 18 Abteilungen den Umstieg auf das neue Abrechnungssystem vor. Für insgesamt rund 650 Anwender mussten die Funktionen der Kernprozesse für Kundenkontakt, Abrechnung mit Debitorenmanagement, Energiedatenservice sowie Zählermanagement auf die SAP-Branchenlösung umgestellt werden.

Mit einer in Prozesse und Services aufgeteilten Projektstruktur beugten die Stadtwerke Hannover und bicon dem Problem “Datenchaos” vor. “Wir wollten die Beeinträchtigungen für unsere Kunden so gering wie möglich halten und den Kollegen in Abrechnung und Kundenkontakt schnellstens gute IT-Werkzeuge für ihre Arbeit an die Hand geben”, so Jörg Gondermann, Projektleiter bei enercity. Deshalb wurde eine Projektorganisation gewählt, die die Implementierung der Geschäftsprozesse und die Einführung der IT-Infrastruktur gleichermaßen berücksichtigt. Die zwei Hauptaufgaben des Projekts waren hierbei aufgeteilt in zwei Typen von Teilprojekten. In den prozessorientierten Teilprojekten wurden Funktionen sowie Geschäftsprozesse entwickelt und implementiert, die sich insbesondere an die neuen Bedürfnisse des liberalisierten Marktes anlehnen. Die serviceorientierten Teilprojekte waren verantwortlich für die Erstellung der erforderlichen IT-Ressourcen wie Workflows, Formularprogramme und Schnittstellen. Die Schulung der Endanwender sowie die Kommunikation und Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat wurden direkt von der Projektleitung verantwortet.
Hinsichtlich dieser Aufspaltung in Teilprojekte vertraute enercity auf die Erfahrungen, die bicon bei diversen Einführungen der SAP-Branchenlösung für Versorgungsunternehmen gesammelt hatte. Getrieben wurde das Projekt durch die prozessorientierten Teilprojekte für Logistik (Geräteverwaltung und Ablesung), Abrechnung, Energiedatenmanagement und Debitorenbuchhaltung. In diesen Teilprojekten wurden im Wesentlichen die organisatorischen Aspekte, also Funktionen und Prozesse, modelliert und ausgeprägt. Hierzu zählen die grundlegenden Prozesse für die Zählermontagen und Ablesung oder auch die Ausprägung des Zahlungs- und Forderungsmanagements. Die serviceorientierten Teilprojekte für Migration, CIC/Workflow, Formulare, Basis, BW und Berechtigungen fungierten als interne Dienstleister der prozessorientierten Teilprojekte und stellten die erforderlichen IT-Ressourcen zur Verfügung. So entwickelte beispielsweise das serviceorientierte Teilprojekt “Formulare” die Rechnungsformulare nach den Spezifikationen, die zuvor das prozessorientierte Teilprojekt “Abrechnung” erarbeitet hatte.
Ausprägung der Branchenlösung
Während der Systemausprägung bis März 2004 waren zahlreiche individuelle Zusatzentwicklungen zu programmieren sowie Schnittstellen für die Anbindung von mehr als 50 Subsystemen zu entwickeln. Hierzu zählte beispielsweise, Workflows zu definieren und zu programmieren, die es den Sachbearbeitern im Kundendienst ermöglichen, ihre Prozesse effizienter abzuwickeln. Auch galt es ein dezentrales Auftragsabwicklungs-System anzubinden, mit dem sich die Arbeitsaufträge für Ablesung, Gerätemontage und Inkassotätigkeiten optimal steuern lassen. Eine besondere Herausforderung war die Entwicklung von Funktionen zum automatisierten Austausch von Rechnungs- und Verbrauchsdaten mit Großkunden.
Das Projekt wurde fortwährend von sich ändernden gesetzlichen Rahmenbedingungen begleitet und musste wegen der neuen “Unbundling”-Vorschriften einzelne Ziele immer wieder in Frage stellen und neu definieren. Gemeint ist hiermit die Entflechtung der Netz- und Energiedienstleistung gemäß der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) in Deutschland. Die Novelle fordert neben der rechtlichen Unternehmenstrennung auch eine Aufteilung der Daten und Funktionen in den jeweiligen Softwarelösungen. “Grundsätzlich sind hierbei Daten und Funktionen zwischen den Bereichen “Netz” und “Vertrieb” zu trennen, um so genannten Vollversorgern keinen unerlaubten Wettbewerbsvorteil im angestammten Versorgungsgebiet zu gewähren”, erläutert Gondermann. So darf es dem Energievertrieb der Stadtwerke Hannover nicht möglich sein, Verbrauchsinformationen über Kunden zu erhalten, die im Netzgebiet der Stadtwerke liegen, aber von fremden Energieversorgern beliefert werden.
Integration mit SAP Business Information Warehouse und SAP EDM
Parallel zu der SAP-Branchenlösung implementierten die Stadtwerke Hannover auch das SAP Business Information Warehouse und Teile des Energiedatenmanagements SAP Energy Data Manangement (SAP EDM).
Die Entscheidung, SAP BW anstelle der im IS-U integrierten Lösung UIS (Utility Information System) zu implementieren, bietet auch den Vorteil, durch die statistischen Auswertungen und das Berichtswesen das Dialogsystem der Stadtwerke nicht zusätzlich zu belasten, da diese Funktionen auf der separaten SAP-BW-Plattform laufen. Darüber hinaus werden im SAP BW durch den vorkonfigurierten “Business-Content Utilities” zahlreiche Datenstrukturen (Info-Cubes) und Auswertungen ausgeliefert, die komfortabel auf die individuellen Anforderungen bei enercity angepasst werden konnten.
Das SAP EDM wurde zunächst soweit implementiert, dass wichtige Informationen des liberalisierten Marktes zentral im IS-U/EDM prozessiert werden. Hierzu gehören beispielsweise die Zählpunkte, die Lastprofile und auch die so genannten Serviceanbieter.
Umfangreiche Tests minimieren die Fehlerquote
Als kritischer Erfolgsfaktor erwies sich erwartungsgemäß die vom Teilprojekt “Migration” durchgeführte Datenübernahme. Hier bestand die Gefahr, dass aufgrund des bei EVU üblichen, enormen Datenvolumens bereits Fehlerquoten im Promille-Bereich umfangreiche und zeitraubende manuelle Nacharbeiten erforderlich machen würden. enercity wollte das vermeiden – auch im Blick auf die durch die Produktivsetzung zu erwartende Downtime und die dabei wachsenden Bearbeitungshalden, die es nach erfolgter Migration zügig abzuarbeiten galt, um den turnusmäßigen Abrechnungsbetrieb wieder herzustellen.
“Im Projekt wurde der Produktivstart dreimal testweise simuliert. Die Projektmitarbeiter extrahierten dabei jeweils den gesamten Datenbestand aus dem Altsystem, transformierten diesen – wo nötig – und übertrugen ihn ins IS-U”, skizziert Gondermann. Diese Vorgehensweise sowie weitere umfangreiche Check- und Testroutinen zur Überprüfung der Datenkonsistenz waren die Basis für die sehr geringe Fehlerquote in Höhe von 0,016 Prozent bei der eigentlichen Migration im Juni 2004. So konnte unmittelbar nach einer dreiwöchigen Downtime mit der Abarbeitung der Vorgangshalden begonnen werden. Angesichts des bewältigten Datenvolumens war diese Downtime äußerst kurz bemessen – allein die Maschinenlaufzeit für Entladen, Umschlüsseln und Beladen der Datenobjekte betrug rund zwei Wochen. In der dritten Woche wurden zunächst diverse Prüf- und Korrekturroutinen durchlaufen, bevor mit Hochdruck erste Batchaktivitäten einsetzten, um die inzwischen auf den Bankkonten von enercity aufgelaufenen Zahlungseingänge einzuspielen und zu verbuchen. Zwei Monate später waren die Rückstände bei allen periodischen Prozessen der Ablesung, Abrechnung und Fakturierung vollständig aufgeholt.
Unterm Strich ist die Stadtwerke Hannover AG sehr zufrieden mit dem Verlauf des Projekts. “Die Laufzeit mit insgesamt 30 Monaten erscheint zwar auf den ersten Blick vergleichsweise lang”, bilanziert Projektleiter Gondermann, “auf der anderen Seite wurde diese Zeit jedoch dazu genutzt, die Lösung optimal auszuprägen und den Systemwechsel sorgfältig vorzubereiten und letztendlich für die Kunden leise und reibungsarm umzusetzen.”
Gerüstet für künftige Gesetzgebung
Die Vorschriften des Unbundlings sind, soweit diese heute belastbar vorliegen, berücksichtigt worden. So wurde in den wichtigen Bereichen der Tarifierung, der Buchung und der Statistik die Trennung der Daten und Funktionen nach “Netz” und “Vertrieb” vorgenommen bzw. für den späteren Einsatz vorgesehen. Durch diese generische Ausprägung kann enercity die Systeme und Prozesse später mit vertretbarem Aufwand an neue Regeln anpassen – und ist somit gerüstet für die künftige Gesetzgebung. Bemerkenswert ist, dass sich die Hannoveraner für die Verwendung des Ein-Vertragsmodells entschieden haben. Demnach werden in der IS-U-Abrechnung die Leistungen für “Netz” und “Vertrieb” differenziert, aber gemeinsam in einem Vertrag prozessiert. Der Vorteil dieser Ausprägung gegenüber dem Zwei-Vertragsmodell ist eine wesentlich höhere Effizienz der Sachbearbeitung. Die jährlichen Einsparungen für den Sachbearbeitungsaufwand liegen laut Jörg Gondermann deutlich im siebenstelligen Euro-Bereich.
