
Herr Piller, hat das Internet mit Open Innovation eine neue Welle der Demokratisierung von Innovationen ausgelöst?
Piller: Ja, in der Tat. Und das beruht auf einem uralten Prinzip erfolgreicher Innovation. Innovation entsteht durch die Neuverbindung bekannten Wissens, oft aus verschiedenen Domänen. Karim Lakhani, der im Rahmen seiner Dissertation hier am MIT die Effizienz von Innocentive untersucht, fand heraus, dass etwa 70 Prozent aller bei Innocentive eingereichten Lösungen auf bereits vorhandenen Ergebnissen beruhen. Und genau hier liegt die Schwierigkeit bei einem klassischen Ansatz der Innovationsfindung: Man sucht nur dort Lösungen, wo man sie vermutet. Die Demokratisierung der Lösungsfindung in Form einer offenen Ausschreibung, an der jeder, vom Nobelpreisträger bis zum Schüler, gleichberechtigt teilnehmen kann, baut diese mentalen Hürden ab. Das wichtigste Kapital von Innocentive ist seine Community. Der Ideenbroker ist lange in aller Welt herumgereist und hat auf Kongressen und an Universitäten die Werbetrommel gerührt, um eine möglichst heterogene, geographisch verteilte Community aufzubauen. Dieser gehören heute schätzungsweise 100.000 Wissenschaftler an – kein Unternehmen der Welt kann sich dieses Forschungspotenzial intern leisten.
Welchen Ausbildungshintergrund haben die Teilnehmer solcher Ausschreibungen?
Piller: Ganz verschieden – allerdings sind die meisten Angehörigen der Innocentive-Community wissenschaftlich tätig: Mehr als die Hälfte hat einen Doktortitel.
Wer sind die Entscheider für die Preisverleihung?
Piller: Der Entscheider ist derjenige Forscher, bei dessen Arbeit das Problem auftrat. Allerdings sind die Aufgabenstellungen bei Innocentive so klar formuliert, dass es anhand technischer Eigenschaften meist sehr einfach ist zu beurteilen, wer die beste, oder überhaupt eine Lösung hat. Um auch die Interessen der Erfinder zu vertreten, sitzt außerdem noch ein Vertreter von Innocentive im Entscheidungsgremium.
Von Open Innovation ist es nur ein kleiner Schritt zur Produktentwicklung mit Hilfe der eigenen Kunden – Stichwort New Product Development. Kommunizieren Hersteller und Kunden dadurch besser miteinander?
Piller: Ja, aber Innocentive richtet sich nicht an die Kunden oder Nutzer eines Unternehmens, sondern an eine große Gruppe von Wissensträgern. Andere Firmen nutzen dagegen ihre Kunden, um Input für ihren Innovationsprozess zu bekommen. Der deutsche Automobilzulieferer Webasto ist ein gutes Beispiel für eine solche Neudefinition des Kunden-Hersteller-Verhältnisses: Webasto richtet seit einigen Jahren so genannte Lead-User-Workshops aus: Dazu selektiert der Zulieferer mit Hilfe eines Fragebogens geeignete Kandidaten aus potenziellen Kunden, beispielsweise aus allen Nutzern eines bestimmten Autotyps. Ziel ist es dabei, solche Nutzer zu identifizieren, die vor der Mehrheit der Kunden ein bestimmtes Bedürfnis haben oder einen wesentlichen Trend erkennen und zudem auch die Fähigkeit haben, kreativ an der technischen Problemlösung mitzuwirken. Die ausgewählten Kunden nehmen freiwillig und ohne Gegenleistung an den Workshops teil. Sie sind froh, dass sich ein Hersteller die Mühe macht, mit ihnen seriös zu sprechen und ihre Probleme ernst zu nehmen. Mit dieser Methode erlangen Hersteller in erster Linie Informationen über neu entstehende Bedürfnisse – und die können sie mit klassischen Marktforschungsmethoden nicht abfragen, denn sie wissen ja gar nicht, wonach sie fragen sollen.
Lässt es sich verhindern, dass Einsendungen zwar nicht ausgezeichnet, aber dennoch kommerziell genutzt oder gar als eigene Ideen patentiert oder weiter verkauft werden?
Piller: Genau das ist ja die Wertschöpfung eines Brokers wie Innocentive. Die Firma gewährleistet Anonymität, sowohl den suchenden Unternehmen als auch denjenigen, die Lösungen anbieten. Gleichzeitig garantiert sie dem Sucher, dass ein Lösungsfinder das geistige Eigentum an seiner Idee besitzt, bevor er es ganz an das suchende Unternehmen abtritt, garantiert aber auch vertraglich allen Teilnehmern, dass ihre Ideen nicht ausgenutzt werden.
Ist es für jemanden mit guten Ideen nicht immer noch lukrativer, sich erst einmal ein Patent zu sichern, statt sich bei Innocentive anonym mit vergleichsweise wenig Geld zu begnügen?
Piller: Sicherlich. Allerdings hat Innocentive einen anderen Ansatz – hier geht es um Wiederverwertung bekannten Wissens. Karim Lakhani hat herausgefunden, dass viele Tüftler in nur wenigen Tagen eine Lösung gefunden hatten – und für vier Tage Arbeit sind 20.000 Dollar schon ein guter Lohn – besonders, wenn die findigen Köpfe aus Indien oder China kommen und oft gar keine Möglichkeit haben, ihre Ideen an westliche Firmen heranzutragen.
In den Fällen, in denen Kunden in den Innovationsprozess einbezogen werden, fließt häufig gar kein Geld: siehe das Beispiel Webasto. Doch hier ist ein Trendwechsel eingetreten. Bei den ersten Firmenprojekten vor ein paar Jahren haben fast keine Kunden nach einer Entlohnung gefragt. Heute, nach einer Explosion von Wettbewerben und teilweise sehr dreisten und unethischen Versuchen von Unternehmen, sich Kundeninput möglichst billig anzueignen, sind die Ideengeber forscher geworden – zu Recht, denn schließlich bezahlt ein Unternehmen seine internen Entwickler ja auch.
Genießt Innocentive momentan noch Monopolstellung oder kopieren andere Unternehmen die Geschäftsidee bereits?
Piller: In der Gesamtheit ist das Innocentive-Modell noch einmalig, aber es gibt Unternehmen mit verwandten Ideen. NineSigma funktioniert auf dem ersten Blick ähnlich, zielt aber vor allem darauf ab, Experten zu finden. Es geht nicht um das Generieren direkter Lösungen, sondern die Teilnehmer zeigen Ideen, die zu einer Lösung führen können. Diese wird dann in einer klassischen F&E-Kooperation weiter entwickelt. YourEncore basiert auf einem Netzwerk pensionierter Experten, die für kurzfristige Aufgaben identifiziert und integriert werden können. Ideacrossing hat sich auf die Organisation großer Ideenwettbewerbe mit Endkunden spezialisiert. Auch hier geht es weniger um konkrete Lösungen als vielmehr um Anregungen und Ideen. Die Hyve AG aus München programmiert Innovationsplattformen, auf denen Herstellern zusammen mit ihren Kunden Innovationswettbewerbe veranstalten können.
Und der Markt für solche Anwendungen wächst beständig. Etablierte Unternehmen wie Audi, Adidas, BMW, Huber Group, Kraft, Lego, Procter&Gamble oder Siemens beginnen mit dem Aufbau dezidierter Organisationsstrukturen, um gemeinsam mit ihren Kunden Produkte zu entwickeln.
Wie könnten sich externe und interne Innovationsfinder die Arbeit künftig sinnvoll aufteilen?
Piller: Interne Abteilungen spielen eine nicht zu ersetzende Rolle bei einer anderen Art von Innovation: bei der Qualitätssicherung, Verbesserung und Überführung von innovativen Konzepten zur Produktionsreife. Die internen Forschungsabteilungen koordinieren den ganzen Prozess und suchen nach langfristigen Trends und Entwicklungen. Externe Quellen der Innovation tragen meist andere Impulse bei: Ideen für funktionale Innovationen, Übertragung von Lösungen aus anderen Disziplinen oder auch Ideen zur Adaption vorhandener Produkte an neue Märkte.
Klassische Marktforschung kann die Open Innovation ergänzen: Sie kann testen, ob Ideen, die von innovationsfreudigen Kunden kommen, auch bei der breiten Masse Anklang finden. Weiterhin kann sie Tests zur systematischen Identifikation von Lead Usern und ihrer Rekrutierung durchführen oder generelle Trends und Entwicklungsströmungen der Branche ausfindig machen.
Open Innovation wurde bereits als „Ebay der Ideen“ bezeichnet. Sehen Sie die Gefahr, dass die menschliche Erfindergabe unter Wert versteigert wird?
Piller: Nein. Die Geschichte ist voll von Beispielen klassischer Erfinder in Unternehmen, die für ihren Arbeitgeber ein sehr erfolgreiches Produkt entwickelt, aber selbst nie davon profitiert haben. Die neuen Interaktionsforen ermöglichen heute eher, dass Erfinder ihre Ideen einfacher denn je profitabel vermarkten können. Früher gab es fast keinen Markt für die Ideen kreativer Einzelner – heute bauen immer mehr Unternehmen solche Marktplätze auf. Es war auch noch nie so einfach wie jetzt, ein Unternehmen zu gründen: Fast jede Infrastruktur kann flexibel über das Netz bezogen werden. Deshalb sind findige Kunden und Tüftler immer weniger auf etablierte Unternehmen angewiesen, sie machen es einfach selbst.
Literatur: Ralf Reichwald & Frank Piller: “Interaktive Wertschöpfung” (Gabler 2006).
Kostenloser Download