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Seit drei Jahren begleitet Stefanie Lawitzke autistische Kollegen bei SAP im Rahmen von „Autism at Work“ durch ihren Arbeitsalltag. Einer von Ihnen ist Michael Müller (Name von der Redaktion geändert), der seit mehr als einem Jahr IoT-Software für SAP entwickelt.

SAP-Mitarbeiterin Stefanie Lawitzke
Stefanie Lawitzke, Projektleiterin für “Autism at work” in Deutschland

Stefanie Lawitzke kennt die Sorgen und alltäglichen Herausforderungen, denen Menschen mit Asperger-Syndrom gegenüberstehen. Bis zum Schulabschluss unterstützen Betreuer Betroffene manchmal noch darin Alltagssituationen besser zu bewältigen. „Nach der Schule ist allerdings Brachland“, meint Lawitzke, „es gibt viele, die über Jahre studiert haben, aber weniger an den inhaltlichen Herausforderungen als vielmehr an den Rahmenbedingungen scheitern – und dann etwa die Abschlussarbeit nicht geschrieben bekommen.“ Manche arbeiten als studierte Mathematiker im Baumarkt, andere werden arbeitslos, weil die Anpassung an den Arbeitsalltag nicht gelingt.

Autism at Work: In acht Ländern und an zehn Standorten weltweit unterwegs

Als vor knapp drei Jahren bekannt wurde, dass SAP in Deutschland eine „Pilotlokation“ planen würde, in der Menschen mit Asperger-Syndrom im Rahmen des Projektes „Autism at Work“ beschäftigt werden sollten, gab es entsprechend eine Schwemme an Interessenten: „So viele Menschen bewarben sich bei uns, vom Landschaftsgärtner über den Automechaniker bis hin zum Programmierer“, erinnert sich Stefanie Lawitzke, „man spürte die große Verzweiflung.“ Das stellte das HR-Team von SAP vor die Herausforderung, mit den vielen Bewerbungen umzugehen und gleichzeitig die vielen anderen externen Anfragen zu beantworten.

Lawitzke, die damals im Produktmanagement für analytische Bankensoftware arbeitete, sprang ein – erst zu 20 Prozent, heute Vollzeit als „Local Lead Deutschland“ für „Autism at Work“. Lawitzke hatte durch ihren heute 18-jährigen Sohn bereits viel Erfahrung mit dem Asperger-Syndrom. Und sie weiß: „Autisten können unter bestimmten Rahmenbedingungen gut arbeiten, aber sie brauchen hin und wieder Menschen, die ihnen dabei helfen“. Die Qualifikation musste allerdings passen, um einen jener Jobs in der Entwicklung, dem Qualitätsmanagement oder dem Bereich Service und Support zu bekommen, für die Autisten besondere Motivation zeigen. Mit der „Autism at Work“-Initiative ist SAP derzeit an zehn Standorten in acht Ländern unterwegs – eine Ausnahme in der Wirtschaft, in der sich wenige Unternehmen um immerhin ein Prozent der Gesellschaft kümmern, die Teil des autistischen Spektrums sind.

Manche Autisten können Codes bildlich sehen

Michael Müller ist einer von aktuell 22 Mitarbeitern mit Asperger-Syndrom, die bei SAP beschäftigt sind. Der gelernte Fachinformatiker hat im September 2015 bei SAP als Softwareentwickler begonnen. Viele Bewerbungen hatte er geschrieben, nachdem er sich mit seinem alten Arbeitgeber und Ausbildungsbetrieb Ende 2014 „in gegenseitigem Einvernehmen“ getrennt hatte. Doch fiel Müller schon wegen des mittelmäßigen Schul- und Ausbildungsabschlusses durchs Raster – und nicht wegen seiner Autismus-Diagnose, die er gar nicht erst erwähnte. Von einer „großen Differenz“  zwischen dem Schulabschluss und dem, was ein Mensch mit Asperger-Syndrom zu leisten imstande ist, spricht Müller, der mit sechs Jahren, ohne ein Buch lesen und Beschreibungen studieren zu können schon seinen ersten Computer zusammenbaute und dessen Kollegen ein ums andere Mal staunten, als der damalige Administrator Müller Probleme bereits löste, bevor sie verstanden, worum es ging. „Ich kann Codes vor meinem Auge bildlich sehen“, sagt Müller, der jetzt IoT-Plattformen für industrielle Anwendungen entwickelt.

Stefanie Lawitzke, die „Übersetzerin der Wahrnehmung von Autisten“

Bei der Bewerbung bei SAP war klar: Es geht um die Einstellung von Menschen mit Asperger-Syndrom. „Ich brauchte es nicht zu verschweigen“, sagt Müller. Zudem war dem Arbeitgeber damit auch eine andere Herausforderung bewusst: „Oft fehlt Menschen mit Asperger-Syndrom das intuitive Gespür, sozial angemessen zu reagieren“, erläutert Lawitzke, die sich als „Übersetzerin der Wahrnehmung der Autisten“ versteht, also als Vermittlerin zwischen der “neurotischen SAP-Welt und der Welt der Kollegen im Spektrum”. Das ist nötig, denn sie kennt die manchmal allzu direkte Art der neuen Teammitglieder sehr gut, die manch einen Kollegen irritiert. Lawitzke allerdings schätzt hingegen die „authentische und echte Art“ der von ihr unterstützten Mitarbeiter. Wenn Müller etwa einen Fehler in einer Software entdeckt, verschweigt er ihn nicht, auch wenn ein neues Release einen Tag später ausgeliefert werden soll, was dann adhoc einen erheblichen Mehraufwand nach sich ziehen kann. „Mit meinem Team habe ich viel Glück“, sagt Müller über seine SAP-Kollegen, die ihm mit „viel Verständnis und Toleranz“ begegnen. Das ist nicht selbstverständlich. „Es gibt viele Vorurteile, die dazu führen, dass sich Unternehmen nicht auf uns einlassen“, so Müllers Eindruck, würden dann aber „eines Besseren belehrt.“

Es ist toll zu sehen, was da gewachsen ist.

– Stefanie Lawitzke

Autisten im Unternehmen: Es gibt viele Vorurteile

Von den 23 Neueinsteigern aus den letzten drei Jahren ist bisher nur einer nicht mehr bei SAP, da er wegen einer ernsthaften Erkrankung ausscheiden musste. Alle anderen sind nach wie vor mit dabei, ein Erfolg auch für Lawitzke, die sagt: „Die Einstellung ist kein Hexenwerk, das Behalten ist die Herausforderung.“ Ein Indiz dafür, warum das bisher so gut gelungen ist, ist beispielsweise die Gruppe, die inzwischen regelmäßig an Wochenenden zusammen unterwegs ist, sich bei Umzügen hilft oder Wandern geht. „Es ist toll zu sehen, was da gewachsen ist“, sagt Lawitzke. Und auch Müller ist angetan von den monatlichen Treffen der „Freizeitgruppe“, mit der es zuletzt zum Schwetzinger Schloss ging. Das ändert trotzdem nichts an seinem größten Hobby – den Computern. Müllers jüngster Geniestreich: Ein selbst gebauter 3-D-Drucker.

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