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Otto Schell treibt im Vorstand der DSAG das Thema Digitalisierung voran und entwickelt als Global SAP Business Architect und Head of Customer Center of Expertise die SAP-Zukunftsstrategie von General Motors mit. In einem Gespräch mit SAP-Expertin Verena Wiszinski erklärt er, warum Unternehmen einen „Chief Disruption Officer“ brauchen – und warum es Zeit für radikale Fragen ist.

Verena Wiszinski: Herr Schell, im Zuge der rasanten Digitalisierung sind Unternehmen gezwungen, ihre Strategien gleich an mehreren Fronten umzustellen. Was sind dabei die größten Herausforderungen?

Otto Schell: Es sind vor allem zwei Effekte, die den Unternehmen zu schaffen machen: die enorm beschleunigten Prozesse und der nahezu vollkommen transparente Markt. Der Wandel ist so tiefgreifend und geht so schnell vonstatten, dass sich viele überfordert fühlen und nur zögerliche Schritte in die Digitalisierung wagen.

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„Es gibt keine Hidden Champions mehr in einem volltransparenten Markt“, so DSAG-Vorstand Otto Schell.

Zudem scheinen sich viele zu fragen: „Warum soll ich da mitmachen? Ich bin ein Hidden Champion mit loyalen Kunden, Spitzenprodukten, vollen Auftragsbüchern.“ Aber es wird in naher Zukunft keine Hidden Champions mehr geben. Nicht in einem volltransparenten Markt, in dem alle Marktnischen und Erfolgsrezepte offen zutage liegen.

Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Awareness gerade in den letzten Monaten deutlich gestiegen ist. Initiativen wie „Industrie 4.0“ haben maßgeblich dazu beigetragen, die Digitalisierung in aller Munde zu bringen und so ein Umdenken zu forcieren. Außerdem führen Vorreiter dem Markt vor Augen, wie sich digitale Chancen in Geschäftsmodelle überführen lassen. Konkrete Nutzenpotenziale werden allerorten greifbar.

Was genau ist die Rolle der IT? Wie kann sie die Transformation unterstützen?

Aus meiner Sicht hat die IT-Abteilung unter anderem die Aufgabe, geschäftliche Anforderungen des Fachbereichs möglichst fehlerfrei in Technologie umzusetzen und dies, ihrem Selbstverständnis entsprechend, auch alleine durchzuführen. Das heißt, die IT ist Stabilität gewohnt und ebenfalls, dass ihr niemand reinredet, schon gar kein Fachbereich. Von der klassischen Release- und Update-Verwaltung hin zur ultraschnellen, hybriden Internet-der-Dinge-Umgebung auf SAP-HANA-Basis – das sind die Herausforderungen, an denen sich die IT jetzt messen lassen muss. Hinzu kommt, dass die Fachbereiche immer stärker in die IT-Welt vordringen und mitreden wollen, beispielsweise wenn es um neue Apps für Kunden geht. Viele IT-Abteilungen sind noch nicht auf diese extrem agilen Anforderungen eingestellt.

Wer ist dann in der Lage, Digitalisierungsprojekte anzustoßen?

Manche Firmen führen eigens die Rolle eines „Chief Digital Officers“ als Schnittstelle zwischen IT und Business ein. Dabei sollte jedoch klar sein, dass Einzelpersonen und sogar eine eigene Abteilung nicht ausreichen werden, die Transformation ins Ziel zu führen. Das gesamte Unternehmen muss mitmachen, über alle Abteilungen hinweg.

Vielleicht bräuchte es statt des „Chief Digital Officers“ einen „Chief Disruption Officer“. Jemanden, der die Gesamtzusammenhänge im Unternehmen versteht, radikal in Frage stellt und entsprechende Diskussionen anstößt. Der die Leute wachrüttelt und kreative Energien freisetzt, die sich dann in Roadmaps gießen lassen. Dabei von „ganz oben“ unterstützt, würde so ein Team sicherlich einiges erreichen können.

Vielleicht bräuchte es statt des „Chief Digital Officers“ einen „Chief Disruption Officer“. (Otto Schell, DSAG)

Das Schlüsselwort hier ist „Gesamtzusammenhang“. Denken Sie beispielsweise an die zunehmend personalisierten Produkte, bis hin zur 1:1-Umsetzung von Kundenwünschen. Um das zu leisten, müssen die Daten nahtlos fließen. Sonst hinkt die Lieferkette schnell hinter Vertrieb und Marketing her oder Waren landen am falschen Ort. Und das ist nur eine der vielen Schwierigkeiten, die aus Silodenken folgen.

Ein erster Schritt dahin ist es, Fachbereiche und IT in Excellence Centern zusammenzubringen und gemeinsam Ideen zu entwickeln, wie die Zukunft des Fachbereichs im Rahmen der digitalen Gesamtstrategie des Unternehmens aussehen kann.

Was sind die höchsten Hürden auf dem Weg zur ganzheitlichen Digitalisierung?

Es ist wichtig, den Kopf freizumachen und über aktuelle Rollenprofile oder die Unternehmens- und Kundenstruktur hinauszudenken. Nur so können wir die Fragen beantworten, vor die uns die Digitalisierung täglich stellt: „Bin ich noch relevant? Habe ich morgen noch die Produkthoheit am Markt und Mitarbeiter mit den richtigen Skills? Kann ich meine Bestandskunden und mein geistiges Eigentum verteidigen?“ Das sind unangenehme Fragen. Aber wir müssen sie uns stellen – Sie, ich, jeder von uns. Denn sonst laufen wir Gefahr, dass unsere Unternehmen quasi über Nacht verschwinden, weil ein neuer Player mit digital getriebenem Geschäftsmodell den Markt aufmischt. Der schlimmste Fehler wäre, nicht darüber zu sprechen und neue Ideen aus Furcht vor Veränderung abblitzen zu lassen.

Was raten Sie Unternehmen, die den Schritt in die Digitalisierung gehen wollen?

Zunächst einmal muss sich die Unternehmensführung die Relevanz ihres derzeitigen Geschäftsmodells bewusstmachen und den Wandel konsequent mittragen und vorleben. Konsequent bedeutet hier, sich tatsächlich auch die „Überlebensfrage“ zu stellen, um damit alle Facetten einer künftigen Strategie beleuchten zu können. Außerdem ist es wichtig, die richtigen Leute für ein Transformationsteam zusammenzustellen – ein solches Megaprojekt lässt sich nicht zwischen Tür und Angel diskutieren. Hier müssen Freiheitsgrade eingeräumt werden, die es den Teams ermöglichen, notfalls alles auf den Kopf zu stellen. Und schließlich muss jeder Mitarbeiter mit an Bord geholt werden. Nur eine offene Kommunikation kann Ängste nehmen und dafür sorgen, dass alle gemeinsam in die richtige Richtung gehen.

Daraus leiten wir als DSAG das Ziel ab, unsere Mitglieder bei ihrer digitalen Transformation bestmöglich zu unterstützen. Dabei gilt es, aufbauend auf unseren Stärken, Veränderungspotenziale und deren Business Value aufzuzeigen, diese in relevante Prozess- und Systemarchitekturen zu übersetzen sowie die entsprechenden Übergänge über adaptierbare Modelle zu begleiten.

Foto: Shutterstock