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Beruf: IT-Ingenieur. Position: Chief Innovation Officer. Aufgabenbereich: Schaffen neuer Wachstumsfelder für SAP durch die Erschließung neuer Märkte und den Einsatz zukunftsweisender Technologien. Mit gerade einmal 35 Jahren ist Jürgen Müller bereits weit oben angekommen. Doch wer ist der Mann, der hinter diesem kometenhaften Aufstieg steckt?

“Man muss keine Angst vor Veränderungen haben”, erklärt Jürgen. Er muss es wissen, denn er musste schon früh lernen, mit Veränderungen umzugehen. Seine Eltern, ein Sozialarbeiter und eine Krankenschwester, trennten sich, als er noch klein war. Beide heirateten später wieder. Was für viele Kinder ein schwerer Schlag ist, erwies sich für ihn als Segen. “Meine Eltern gingen mit der neuen Situation sehr gut um”, erzählt er rückblickend. “Ich habe ein sehr enges Verhältnis zu ihnen und zu meinen fünf Halbgeschwistern. Man könnte sagen, dass ich mit der Kraft von zwei Familien statt einer aufgewachsen bin.”

Gemeinsam schenkten ihm seine beiden Familien zum zwölften Geburtstag einen Amiga 500. “Computerspiele waren cool, aber Fußball hat mich damals mehr interessiert”, räumt Jürgen ein, der mit 14 sein erstes Geld als Schiedsrichter verdiente. Doch mit der raschen Verbreitung des Internets Ende der 90er-Jahre änderte sich alles. “Alle wollten eine Website, doch die wenigstens wussten, wie man eine erstellt. Zusammen mit einem Freund brachte ich mir selbst bei, wie man Websites entwickelt. Noch während der Schulzeit gründeten wir ein Start-up. Damit habe ich mir meinen Führerschein finanziert.”

Nach diesen ersten Erfahrungen als Unternehmer schrieb sich Jürgen an der Universität Göttingen für Wirtschaftsinformatik ein. Gegen Ende seines Studiums belegte er einen Chinesisch-Kurs und gewann ein Stipendium für die Tongji-Universität in Schanghai. “Es hat mich tief beeindruckt, wie unermüdlich die chinesischen Studenten daran arbeiten, ihren Traum von einem besseren Leben zu verwirklichen”, berichtet er. “Ich habe dadurch gelernt, meine eigenen Möglichkeiten mehr zu schätzen.” Nach sechs Monaten in China kehrte Jürgen zurück nach Deutschland, um zu promovieren.

Bevor er zu SAP kam, gründete Jürgen ein Start-up, studierte sechs Monate in China und promovierte am Hasso-Plattner-Institut.

Das richtige Fach zu finden, gestaltete sich jedoch als ziemliche Herausforderung. “In der Wirtschaftsinformatik lag der Schwerpunkt zu wenig auf dem technischen Aspekt, und Informatik selbst war mir zu praxisfern.” Jürgen hatte sich schon damit abgefunden, als Berater oder Leiter eines kleinen Entwicklungsteams zu arbeiten, als er zum ersten Mal vom Hasso-Plattner-Institut (HPI) hörte. “Es passte einfach perfekt. Der Schwerpunkt am HPI lag auf der Anwendung von Technologie im geschäftlichen Kontext.”

Leider war zum damaligen Zeitpunkt nur eine Doktorandenstelle ausgeschrieben: in Systemadministration. Da er jedoch das Gefühl hatte, dass das HPI genau der richtige Ort für ihn war, wollte er jede Möglichkeit nutzen – und sei es eine Promotion in Systemadministration. “Doch schon nach den ersten fünf Minuten des Vorstellungsgesprächs war klar, dass die Stelle nicht das Richtige für mich war.” Er fuhr direkt anschließend zwei Wochen in den Urlaub. Als er zurückkam, erzählte ihm seine Familie, dass das HPI angerufen hatte: Es gab noch eine weitere Doktorandenstelle.

Obwohl er bereits zwei Tage später anfangen sollte, sagte Jürgen sofort zu und lieh sich das Auto seiner Mutter, um nach Potsdam zu fahren. “Ich kannte niemanden dort”, erinnert er sich. “Ich hatte noch keine Wohnung und auch wenig Hoffnung, so kurzfristig etwas zu finden. Da traf ich eine chinesische Austauschstudentin, die zu ihrem Freund ziehen wollte, jedoch kein Auto hatte, um ihre Sachen zu transportieren. Ich bot ihr meine Unterstützung an: Noch am selben Abend half ich ihr beim Umzug und um 3 Uhr morgens hatte ich eine Wohnung.”

Jürgen blieb fünf Jahre in Potsdam und zog dann nach Berlin, wo er noch immer lebt. Während seiner Doktorarbeit hatte er als Dozent, Betreuer und schließlich auch als Vertreter des Lehrstuhls von Hasso Plattner viel mit SAP zu tun. “Um die Studierenden in SAP-Technologie unterrichten zu können, musste ich mir praktische Erfahrungen in Software-Implementierungsprojekten aneignen. Irgendwann war es schließlich ein logischer Schritt, direkt für das Unternehmen zu arbeiten.”

Genauer gesagt, für das SAP Innovation Center.

SAP ist mehr als ERP

Das 2011 vom SAP-Vorstand geschaffene SAP Innovation Center in Potsdam hat die Aufgabe, neue Trends in der Technologiewelt aufzuspüren und potenzielle neue Märkte und Geschäftsmodelle zu identifizieren. Es gehört zum SAP Innovation Center Network, das mittlerweile verschiedene Standorte auf der ganzen Welt – vom Silicon Valley über Israel bis hin zu Singapur – umfasst.

Die Leitung des SAP Innovation Centers in Potsdam war Jürgens erste Rolle bei SAP.

Im Sommer 2016 wurde Jürgen zum ersten Chief Innovation Officer der SAP ernannt. “SAP war schon immer ein innovatives Unternehmen”, erklärt der 35-Jährige, der direkt an den Vorstandssprecher von SAP, Bill McDermott, berichtet und für mehr als Tausend Mitarbeiter in seinem Bereich verantwortlich ist.

“Wir haben die Innovation in allen Bereichen vorangetrieben: Im Rahmen der kontinuierlichen Innovation verbessern wir unsere Produkte laufend mittels etablierter Technologien in bestehenden Märkten. Auch dehnen wir unser bestehendes Produktportfolio mittels neuerer Technologien aus oder erschließen angrenzende Märkten mit etablierten Technologien, was wir als ‚erweiternde Innovation’ bezeichnen. Und durch die sogenannte transformative Innovation entwickeln wir gänzlich neue Technologien und Geschäftsmodelle, aus denen hoffentlich bahnbrechende Produkte und Dienstleistungen entstehen und wodurch wir völlig neue Märkte erschließen.”

Er weiß, dass Kunden mit dem Begriff “Innovation” nicht immer sofort SAP assoziieren und für die meisten von ihnen SAP ein Anbieter von ERP-Software ist. “Das möchte ich ändern. Die Welt soll wissen, welche beeindruckenden, zukunftsweisenden Innovationen wir zusätzlich zu unseren ERP-Anwendungen zu bieten haben.”

Ein Ball ist nie verloren

Sich um aktuelle Geschäftsmöglichkeiten zu kümmern und neue Trends vorherzusehen sind für Jürgen zwei Seiten derselben Medaille. “Für mich ist es extrem wichtig, nicht in einer ,SAP-Blase’ zu enden: In meiner Position muss ich ständig in Kontakt mit Kunden und Partnern bleiben. Nur so kann ich verstehen, welche Bedürfnisse sie haben, wie sich der Markt entwickelt und wie wir gemeinsame Innovationsprojekte in Angriff nehmen können. Wenn ich inspirierende Menschen treffe, die voller Ideen stecken, schärft sich auch mein Blick für die Trends in der Geschäfts- und Technologiewelt.”

Enger Austausch mit den Kunden ist entscheidend für Jürgens Aufgabe als Chief Innovation Officer.

In Jürgens Position ist es zudem entscheidend, sich stets über die neuesten technischen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. “Um über unsere Technologie sprechen zu können, muss ich nicht nur wissen, welche Möglichkeiten sie unseren Kunden bietet, sondern mich auch damit auskennen, was unter der Oberfläche passiert. Derzeit befasse ich mich intensiv mit den technischen Aspekten des maschinellen Lernens. Ich vermisse das Programmieren ein wenig und habe mich deshalb zu einem Python-Kurs auf openSAP angemeldet. Ich verbringe außerdem jede freie Minute damit, mich über neue Technologiebereiche zu informieren. Das Fernsehen habe ich mir allerdings abgewöhnt”, berichtet er schmunzelnd. “Dafür habe ich keine Zeit.”

Nach wie vor ist die Familie eine der wichtigsten Stützen in Jürgens Leben. Gut abschalten kann er auch beim Sport. “Ob Fußball, Triathlon oder Squash – man kann bei jeder Sportart etwas lernen. Beim Squash lernt man, dass ein Ball niemals verloren ist. Selbst wenn man ihn nicht mehr erwischt, prallt er an der Wand ab und kommt zurück – und dann kann man erneut zum Schlag ausholen. Wenn man sich das immer wieder vor Augen hält, bleibt man auch unter hohem Druck ruhig.”

Liegt darin also das Geheimnis, bereits in so jungen Jahren so erfolgreich zu sein und so weit oben zu stehen? Zunächst lacht Jürgen über die Frage. Doch nach kurzem Nachdenken bekennt er: “Wenn ich mich entscheiden muss, ob ich noch einen Schritt weiter gehen möchte oder nicht, denke ich an meine Großmutter, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter ärmsten Verhältnissen in Kassel aufwuchs. Sie war eine sehr gute Schülerin und wollte studieren, doch ihre Familie konnte sich die geringe Gebühr für das Gymnasium nicht leisten. Sie musste die Schule verlassen und arbeiten gehen.”

“Im Vergleich dazu war mein Leben von Anfang an sehr privilegiert. Und das ist vermutlich eine Sache, die mich antreibt: Ich möchte Chancen nicht ungenutzt verstreichen lassen, und ich möchte anderen helfen, ihr Potenzial bestmöglich zu entfalten.”

Bildquelle: SAP