Wer einen Markt erobern will, muss ihn manchmal erst schaffen. Und dann Durchhaltevermögen zeigen. Wie SAP mithalf, die Grundlagen für den Aufstieg Chinas zur Weltmacht zu legen.
Genau sieben Journalisten hatten sich in einem Hotelzimmer in Peking eingefunden, als Klaus Zimmer die Pressekonferenz eröffnete. Wenige Tage zuvor war der Deutsche von Siemens zu SAP gewechselt und nun im Januar 1997 stellte SAP den neuen Geschäftsführer der Region Greater China der Öffentlichkeit vor. „Ich wollte den Journalisten von ERP-Software erzählen, aber die hatten den Begriff noch nie gehört“, erinnert sich Zimmer.
Unternehmen, die lieber Geld für neue Maschinen als für Software ausgaben; globale Beratungsfirmen, die noch nicht bereit waren, in China zu investieren; eine SAP-Führungsmannschaft, die China von Walldorf aus erst allmählich in den Blick nahm: Als Klaus Zimmer sein Amt antrat, fand er einen Software-Markt vor, der keiner war. „Software und Services hatten damals noch keinen Wert in China“, erzählt Zimmer. „Und es gab noch ein paar andere Herausforderungen“, fügt er hinzu.
Aber der Reihe nach.
Klaus Zimmer lebte schon seit 1989 in China und baute dort das Telekommunikationsgeschäft für seinen Arbeitgeber Siemens auf (über die Anfänge der SAP in Greater China und wie SAP von der Vertriebspartnerschaft mit Siemens profitierte, lest Ihr im ersten Teil der SAP-China-Story). Zimmer erkannte schon früh das Potenzial von SAP-Software und trug 1990 maßgeblich dazu bei, den ersten SAP-Kunden in China, Shanghai Machine Tool Works, zu gewinnen. Es sollte aber noch bis Ende 1996 dauern, bis Walldorf einen Wechsel von Klaus Zimmer zur SAP forcierte.
Universitäten als Multiplikatoren
Im Mai 1996 gründeten SAP und Siemens in Shanghai auf Betreiben von Klaus Zimmer und SAP-Vorstand Peter Zencke im Beisein von SAP-Mitgründer Klaus Tschira, der ein großer China-Fan war, die „Stiftung für Soziale Marktwirtschaft“. Die beiden Partner investierten zehn Millionen DM, um gemeinsam zehn Rechenzentren in China mit R/3-Software von SAP und Hardware von Siemens auszustatten. Ziel war es auch, die Wirtschaftswissenschaften zu stärken, SAP-Knowhow an die Universitäten im Land zu bringen und SAP-Schulungen im Lehrplan zu etablieren, erinnert sich Clas Neumann, der dann als Assistent von Peter Zencke zum Bevollmächtigten der Stiftung ernannt wurde. Fortan reisten regelmäßig Lehrkräfte aus China auf Einladung der Stiftung nach Walldorf, um im Internationalen Schulungszentrum zu SAP-Experten ausgebildet zu werden. Anlässlich des Staatsbesuchs des deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog im November 1996 wurde ein Trainingszentrum an der Zhejiang Universität in Hangzhou eröffnet. „Während des Besuchs habe ich mit Klaus Tschira und Peter Zencke vereinbart, dass ich zu SAP komme“, erinnert sich Zimmer.
Und noch etwas vereinbarten die Gesprächspartner: „Ich habe Wert darauf gelegt, dass ich mindestens drei Jahre Zeit bekomme, den Markt aufzubauen und profitabel zu werden“, sagt Zimmer. Eine Anschubfinanzierung, wie sie der Kaufmännische Leiter Dieter Matheis in anderen Regionen gab, die dann nach einigen Monaten auf eigenen Füßen stehen konnten, würde hier nicht reichen. Zumal die ersten internationalen Kunden wie Metro und BASF ihre in China implementierte Software über globale Verträge abrechneten und auch so kein Geld aufs chinesische SAP-Konto floss. Nicht zuletzt, so Zimmer, „herrschte bei SAP noch teilweise die Einstellung vor, die Software würde sich von alleine vertreiben und man benötige weder ein Sales-Team noch Marketing. Aber man kannte uns hier ja nicht.“
Zahlen mit Potenzial und starke Konkurrenz
Während SAP in Japan 1997 bereits 380 Millionen Deutsche Mark umsetzte, kam Hongkong laut Zimmer auf rund vier Millionen DM. Und China? Verpasste das vorgegebene Budget von einer Million DM.
Zimmer: „Es lag eine titanische Aufgabe vor uns in einem riesigen Land, das nur in Hardware denkt und sich aufs Kopieren spezialisiert hat. Dazu kam gerade, als wir loslegten, noch ein starker Gegner.“
Der US-Konkurrent Oracle hatte nach Zimmers Schätzung rund 90 Prozent des Datenbankmarkts in China für sich vereinnahmt. Und fing nun ebenfalls an, Anwendungssoftware zu vertreiben.
In Ermangelung eines Werbebudgets setzte Zimmer auf persönliche Kontakte. „Ich hatte einen guten Bekannten bei Microsoft, der hat mich bei seinen Kunden mit ins Spiel gebracht. Und wenn sie Geld für Microsoft ausgegeben haben, war der Weg nicht mehr weit zu betriebswirtschaftlichen Anwendungen.“
Für Zimmer stand fest: „Seeing is Believing.“ Referenzkunden mussten her, und zwar im Land selbst. So entwickelte er seine „Leuchtturm-Strategie“, die ihm in Singapur und Walldorf bald den Spitznamen des „Leuchtturm-Wächters“ einbrachte. Er richtete sein Augenmerk zum Beispiel auf Hightech-Firmen wie Legend (ab 2004 Lenovo), die sich bei der Konkurrenz umschauten und sahen, dass etwa Hewlett-Packard die Logistik mit SAP betreibt – und sich dann Ende 1998 auch für SAP entschieden. Als sich immer mehr Staatskonzerne international aufstellten, blickten die wiederum auf Legend und folgten deren Beispiel.
Leuchttürme wachsen in die Höhe
Auf ähnliche Weise eroberte SAP in China über den „Leuchtturm“ Sinopec die Petrochemie und viele andere Unternehmen der Öl- und Gasbranche. Auch die Stahl- und Metallurgie-Industrie nahm für Zimmer eine strategische Rolle ein. Zunächst vereinbarte er eine Kooperation mit einem Institut in Peking, brachte dessen Mitarbeiter auf SAP-Kosten nach Deutschland zu den Stahlkonzernen Krupp und Thyssen und implementierte dann eine erste R/3-Anwendung bei Henan Steel in Zhengzhou. „Innerhalb von 18 Monaten hatten wir 20 Kunden aus der Metallbranche“, erinnert sich Zimmer.
„Unsere Leuchtturm-Kunden hatten großen Einfluss auf ihre Mitbewerber“, sagt Yi Sha, der am 1. April 1997 als Berater bei SAP in Peking anfing. „Die Herausforderung bestand für uns vor allem darin, das Konzept von ERP-Software bei den chinesischen Unternehmen zu etablieren. Und sie davon zu überzeugen, dass unsere Software die nationalen Anforderungen abdecken kann.“
Das funktionierte immer besser, denn die Lokalisierung der Software schritt voran und die Leuchttürme waren zufrieden. Auch in diesem Fall zeigte sich die Überlegenheit der SAP-Systemarchitektur. Clas Neumann: „Unsere Software war den Lösungen der US-Wettbewerber überlegen und besser zu lokalisieren. Die Anpassung an lokale Gesetze und Sprachen war bei SAP aufgrund unserer Wurzeln im Herzen Europas schon immer ein Teil der DNA. Und hier konnten wir zudem von den Erfahrungen der japanischen Kollegen profitieren, deren R/3-Version ebenfalls auf einem Double-Byte-basierten UI aufbaute.“
So konnte sich SAP gegenüber Oracle behaupten, obwohl die Amerikaner besser bekannt und finanziell besser aufgestellt waren. „Aber ihre Software war nicht so ausgereift wie die von SAP“, stellt auch Klaus Zimmer rückblickend fest. „So haben deren Kunden nicht so enthusiastisch über die Software gesprochen wie die SAP-Kunden über R/3.“
Das China-Geschäft nimmt Fahrt auf
Zusammen mit seinem Team tingelte Zimmer von Unternehmen zu Unternehmen, von Behörde zu Behörde. Unterstützung erhielt er von Vorstand Peter Zencke und Clas Neumann, der Zencke in allen China-Angelegenheiten beiseite stand. Clas: „Ich bin oft mit Peter durch China gereist und wir sind stundenlang bei irgendwelchen Funktionären und Bürgermeistern gesessen, um das Geschäft anzustoßen.“ Clas half Klaus Zimmer, ein Netzwerk nach Deutschland zu knüpfen, und bereitete seine Besuche in Walldorf vor. Dort trafen sie sich etwa mit Partnermanagern von IBM, HP, Siemens-Nixdorf und anderen Hardware-Herstellern, um gemeinsame Initiativen zu entwickeln. Während Hard- und Softwarefirmen sich allmählich auf dem chinesischen Markt breit machten, hielten sich die Beratungs- und Servicepartner noch merklich zurück. „Die meisten wollten noch nicht in China investieren“, erzählt Zimmer. „So mussten wir unseren eigenen Service aufbauen und haben lange Zeit rund 80 Prozent der Implementierungen selbst umgesetzt.“
1999 zählte SAP in Greater China mehr als 110 Kunden, darunter auch zunehmend chinesische Firmen wie die Fastfood-Kette Mr. Kon oder die Reederei Cosco.
Mit dem Beitritt Chinas in die Welthandelsorganisation 2001 nahm das Software-Geschäft weiter Fahrt auf. Das war auch das Jahr, in dem SAP in China erstmals Gewinn machte. „Und SAP entwickelte sich zum Goldstandard“, sagt Zimmer. „Oracle war nur die zweitbeste Option.“ Laut der Marktforscher von IDC lag der Anteil der SAP am chinesischen ERP-Markt im Mai 2003 bei 28,7 Prozent gegenüber 10 Prozent für Oracle. Jetzt installierte SAP auch einen Channel-Vertrieb mit zunächst 12 Partnern und drei Distributoren für die Mittelstandslösung SAP Business One. Leuchtturm-Kunden in anderen Branchen – etwa der Energiewirtschaft – folgten. Zimmer: „Das war ein Schneeballeffekt, der sich langsam aufbaute und ab 2002, 2003 dann so richtig ins Rollen kam.“
Auf dem Weg zum Mainstream
Und Klaus Zimmer ritt diese Welle. Bei den Kunden präsentierte er auf Chinesisch, den Journalisten erklärte er respektvoll und geduldig, warum ERP-Software für die chinesische Wirtschaft so wichtig war. „ERP wurde zum Mainstream, und SAP gleich mit“, sagt Zimmer. „Und ich wurde quasi zum Mister ERP.“ Er trat im chinesischen Fernsehen auf, und als das Magazin Metropol über SAP berichtete, erschien Zimmer auf dem Titelbild und sein Konterfei war auf allen U-Bahn-Stationen in Shanghai zu sehen.
Das blieb auch der chinesischen Staatsführung nicht verborgen. Über Kontakte in der deutschen Botschaft in Peking vertiefte Zimmer die Beziehungen zwischen SAP und der deutschen und chinesischen Regierung. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder bei seinem China-Besuch 2004 Zimmer fragte, was er für ihn tun könne, bat er ihn, darauf einzuwirken, dass bei Aufträgen von Staatskonzernen auch ausländische IT-Firmen berücksichtigt werden. „Das hat er in einem Brief an den Premierminister Wen Jiabao getan. Und als Schröder bei einem von uns organisierten Event vor rund 100 chinesischen Wirtschafts- und Regierungsvertretern in einer frei gehaltenen und sehr kraftvollen Rede uns und die deutsche Wirtschaft anpries, habe ich ihm anschließend einen Job als Vertriebler bei SAP angeboten“, erinnert sich Zimmer und lacht. Er selbst setzte sich in vielen Gesprächen mit der chinesischen Regierung dafür ein, Software einen höheren Stellenwert einzuräumen. Mit Erfolg: Die Regierung förderte nun die Informationstechnik (worunter man vor allem ERP verstand), investierte in die universitäre Ausbildung von IT-Experten und vergab etwa Kredite an Unternehmen, die Geschäftssoftware einführen wollten, um ihre Effizienz zu erhöhen.
Doch es blieb weiterhin aufwändig, die Unternehmen dazu zu bewegen, mehr Geld für Software auszugeben. Zimmer: „Chinesische Kunden sind sehr anspruchsvoll. Viele erachteten Services als selbstverständlich und es war schwierig, sie von der Notwendigkeit der Wartung zu überzeugen.“
Besonderer Teamgeist
Die Mitarbeiter aber blieben geduldig, gewannen Kunde für Kunde und das Unternehmen wuchs. Die SAP zählte in China im Jahr 2004 rund 500 Mitarbeiter, darunter seit 2003 auch die ersten etwa 50 Entwickler (siehe Box). Fast alle stammten aus dem Land. Zimmer baute von Beginn an auf chinesische Mitarbeiter, während die Konkurrenz ihre Führungspositionen vorwiegend mit ausländischem Personal besetzte. „Wir waren ein eingefleischtes Team und hatten einen ganz besonderen Spirit“, erinnert sich Zimmer. „Und wir hatten alle das gemeinsame Ziel, die chinesischen Unternehmen mit ERP-Software und modernen Geschäftsprozessen effizienter und stärker zu machen“, ergänzt Yi Sha, der noch immer für SAP als Berater, jetzt im Presales, arbeitet.
Das sei ihnen ja auch gelungen, sagt Yi Sha: „Mit ihren modernen betriebswirtschaftlichen Konzepten und bewährten Geschäftspraktiken hat die SAP den Wert der IT in der chinesischen Wirtschaft enorm gesteigert.“ Und Cicy Hu, die schon im Juli 1996 zu SAP kam und heute als Senior Finance Specialist das Finanzteam vor Ort verstärkt, fügt hinzu: „Unsere Software hat die Arbeitsabläufe und Management-Konzepte der Firmen in China verändert.“
Beide sind stolz, mitgeholfen zu haben, die SAP in China als erfolgreiche Marke zu etablieren. „Ich bin noch immer der glücklichste Mensch, wenn ich einen Kunden von SAP überzeugt habe und er dann erfolgreich live geht“, sagt Yi Sha.
Respekt und viel Freiraum
Das war wohl auch die Einstellung, auf die sich Klaus Zimmer bei seinen Leuten immer verlassen konnte. „Entscheidend war, dass wir das bessere Team hatten“, sagt er. „Ich war hier mit einer guten Kernmannschaft über zehn Jahre zugange, während andere ihre Managementteams vier- oder fünfmal komplett austauschten. Wir haben das gemeinsam aufgebaut, wir mussten beharrlich sein, haben einige Täler durchwandert, haben aber auch viele gemeinsame Erfolge gefeiert. Und das funktioniert nur, wenn man sich respektiert und vertraut. Diese Stabilität und Standhaftigkeit führte auch zu Stabilität im Markt.“
Zimmer, der inzwischen als President für SAP Nordasien neben Festlandchina, Hongkong und Taiwan auch Südkorea verantwortete, schätzte den Freiraum, den ihm die SAP-Zentrale in Walldorf gewährte – auch wenn er sich gerade in den Anfangszeiten etwas mehr Unterstützung gewünscht hätte. „Ich kam ja von Siemens und war überrascht, dass man mir im Grunde die Firma hier komplett anvertraut hat. Natürlich musste ich meine Zahlen berichten, aber ich hatte in Allem freie Hand.“
Das änderte sich in seiner Wahrnehmung Mitte der 2000er Jahre, als die SAP-Zentrale in der Anbindung der Landesgesellschaften ihrem Namen eher gerecht werden wollte. Bevor er 2008 die SAP verließ, riet er Vorstandssprecher Henning Kagermann, in chinesische Unternehmen zu investieren, um einfacher Zugang zur öffentlichen Verwaltung in China zu bekommen. 2011 wechselte Zimmer zum IT-Entwickler und -Dienstleister Neusoft, wo er noch heute als Direktor tätig ist.
In seinem letzten SAP-Jahr 2007 verbuchte Klaus Zimmer mit dem China-Geschäft immerhin einen niedrigen zweistelligen Millionen-Euro-Gewinn. Es gab nun einen Markt für ERP-Lösungen, die chinesische Wirtschaft legte auch dank SAP-Software die Basis für den folgenden Aufstieg zur Weltmacht.
Als Klaus Zimmer seine letzte Pressekonferenz eröffnete, war SAP in China eine angesehene Marke geworden. Statt sieben Journalisten wie zehn Jahre zuvor kamen diesmal 200.