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Wer in Lateinamerika erfolgreich sein will, braucht Pragmatismus und Durchhaltevermögen, ein gutes Team und gute Nerven. Das galt in den 1990er-Jahren genauso wie heute.

Von einem besinnlichen Weihnachtsfest konnte für die mexikanische Regierung und die Chefs der Zentralbank keine Rede sein: Am 20. Dezember 1994 mussten die Währungshüter des zentralamerikanischen Landes den Peso gegenüber dem US-Dollar um rund 15 Prozent abwerten. Das Land war nicht mehr in der Lage, den fixierten Kurs seines Pesos gegenüber der US-Währung aufrechtzuerhalten. Die Folge war ein massiver Abzug ausländischen Kapitals. Dies belastete die mexikanischen Unternehmen schwer und führte letztlich zu einer Wirtschaftskrise im Land– mit negativen Folgen auch für andere Staaten in Lateinamerika.

Nur wenige Monate zuvor, im April 1994 hatte die SAP in Mexiko ihre 19. Landesgesellschaft gegründet – die erste in Lateinamerika. Jetzt befand sich die junge SAP-Tochter mitten in der später sogenannten „Tequila-Krise“, wie sich Maricarmen Ortiz erinnert. Die Mexikanerin war im September von IBM zu SAP gewechselt und unterstützte Kunden als Beraterin. Mit Geschäftsführer Raul Véjar und ihren etwa 15 Kollegen galt es nun, die unter Druck geratenen mexikanischen Firmen davon zu überzeugen, dass „es insbesondere in Krisenzeiten sinnvoll ist, in Software zu investieren und man sich so Wettbewerbsvorteile verschaffen kann“, erzählt Ortiz.

Es war wahrlich nicht die einzige wirtschaftliche und politische Krise, die die SAP-Mitarbeitenden seit den ersten Schritten auf dem lateinamerikanischen Kontinent beschäftigte – und die sie seitdem gemeistert haben.

Politische und ökonomische Krisen

Handelskonflikte, die Verstaatlichung von Unternehmen, Regierungswechsel, Finanz- und Währungskrisen: „Es war und ist immer etwas los“, sagt James Gunn. Er begann im Juni 1997 als Controller für die Region Lateinamerika bei SAP in Newtown Square und ist heute auf Seiten von Finance & Administration für strategische Projekte zuständig. „Instabilität wurde zu einer Konstante. Und unsere Aufgabe war es, als Botschafter der Region der SAP-Führung in Walldorf zu erklären, vor welchen großen Herausforderungen jedes Land stand und was wir taten, um dennoch unsere Ziele zu erreichen.“

Was meistens gelang, wie Peter Rasper respektvoll anerkennt. Rasper ist 2019 als kaufmännischer Leiter in den Vorruhestand gegangen. Er hatte das Ländercontrolling in Nord- und Südamerika Mitte der 1990er-Jahre aufgebaut. Die Zahlen seien häufig – wie andernorts auch – „auf den letzten Drücker“ geliefert worden, sagt Rasper. Manche Vertriebler hätten Meisterschaft dabei erlangt, „Verträge zu bunkern und dann aus der Schublade zu ziehen, wenn es nötig war“. Doch die Kollegen in Lateinamerika hätten immer „den richtigen Spirit gehabt.“ „Ihre improvisierende, pragmatische und emotionale Art gepaart mit unserem Entwicklungsansatz und Kundenfokus haben diese Erfolgsgeschichte erst möglich gemacht.“

Das sieht auch der US-Amerikaner und „Gringo“ James Gunn so. Er war nicht nur beeindruckt, auf welch hohem englischen Sprachniveau er mit Kollegen in Lateinamerika diskutieren konnte. „Ich finde es auch phänomenal, wie die Leute unser Unternehmen durch all diese Krisen hindurchmanövriert haben.“

Teamgeist und Kundenorientierung

Mehrere Faktoren dürften neben einem hervorragenden Produkt, das meist schon früh an die lokalen Anforderungen angepasst wurde, für das erfolgreiche „Krisenmanagement“ ausschlaggebend (gewesen) sein. Die nachfolgend dargestellten drei gehören sicher dazu:

Erstens der unerschütterliche Teamgeist: „Wir waren anfangs nicht viele Leute und mussten alles tun und uns dabei gegenseitig unterstützen“, erinnert sich Lorena Dames. Sie kam im Juli 1994 zur SAP in Argentinien und ist heute COO für Customer Experience in Lateinamerika. „Berater führten Demos vor und machten Support; Mitarbeitende aus der Rechtsabteilung erklärten das Produkt und schlossen Verträge ab. Wir waren eine eingeschworene Truppe – alle ähnlich jung –, und SAP gab uns Gelegenheit, enge persönliche Beziehungen aufzubauen, die uns durch dick und dünn geführt haben.“ Und das über Team- und Ländergrenzen hinweg. Beim Aufbau neuer Landesgesellschaften kamen die Mitarbeitenden von bereits gegründeten zu Hilfe, rekrutierten neue Leute, etablierten Prozesse und brachten ihre Erfahrungen ein.

Thomas Hanser kann das nur bestätigen. „Es ist Teil der lateinamerikanischen Kultur, sich untereinander zu helfen“, sagt der IT-Spezialist. Er hat die Infrastruktur nicht nur in Brasilien, sondern auch in vielen anderen SAP-Landesgesellschaften aufgebaut. „Und ich finde, dass das seit jeher auch zur SAP-Kultur gehört: Wir fühlen uns als Teil von etwas Größerem und unterstützen uns, um gemeinsame Ziele zu erreichen und uns gemeinsam weiterzuentwickeln.“ Das sei bis heute so, sagt der Brasilianer, dessen Großeltern einst von Deutschland nach Brasilien ausgewandert sind und der heute bei SAP das globale Outsourcing von IT-Services verantwortet.

Ein zweiter Faktor ist der unbedingte Kundenfokus: Klar, SAP habe die besten Leute und die besten Lösungen, sagt Ricardo Avila. Aber für den Venezolaner, der 1996 bei SAP in der Rechtsabteilung anfing, war für das erfolgreiche Navigieren durch alle Krisen die „Customer-First-Einstellung“ ausschlaggebend sowie die Bereitschaft, den Kunden nichts vorzumachen. „Wenn eine Funktionalität noch nicht verfügbar oder Teile der Software noch nicht lokalisiert waren, dann haben wir das zugegeben und versprochen, die Funktionalität in ein paar Monaten zu liefern. Und das haben wir dann auch gemacht“, erzählt Avila. Dennoch blieben Konflikte nicht aus, wenn etwa die hohen Erwartungen der Kunden mit den Ressourcen der SAP nicht in Einklang zu bringen waren.

Die Kunden nicht im Stich lassen

Gerd Bizer erinnert sich an eine solche „andere“ Krise: „Ich habe Mitte 1996 das Lokalisierungsprojekt für Argentinien übernommen. In einem Meeting machten uns die Vertreter der argentinischen Anwendergruppe zwei Stunden lang rund, schrien uns an, bezeichneten uns als Betrüger. Als wir die Missverständnisse geklärt hatten, wurden wir schnell zu besten Freunden. Da habe ich gelernt, welch große Rolle Emotionen in Lateinamerika spielen“, sagt Bizer, der 2019 in den Vorruhestand gegangen ist. Innerhalb von ein paar Monaten „war das Thema beruhigt“, und die Kunden waren zufrieden.

Natürlich laufe nicht immer alles reibungslos, habe jedes Projekt seine Herausforderungen, räumt Peter Rasper ein. Aber die SAP habe sich auch bei der Expansion in Lateinamerika den Ruf erarbeitet, die Kunden nie hängenzulassen und stets eine Lösung für etwaige Probleme zu finden. Dies galt etwa in der Wirtschaftskrise 2001 in Argentinien. Jorge Schiavo berichtet, dass die SAP bei den unter Druck geratenen Kunden die Wartungskosten einfror. „So haben wir mitgeholfen, die Firmen und ihre Mitarbeiter zu schützen“. Schiavo kam 1995 als 12. Mitarbeiter in Argentinien zur SAP. „Zudem haben wir mit besonderen Maßnahmen dafür gesorgt, dass unsere eigenen Mitarbeiter angesichts Abwertung und hoher Inflation ihr Geld nicht verlieren“, fügt er hinzu. Weiterhin bringt er seine Finanzexpertise und Erfahrungen mit dem argentinischen Steuerrecht ein und optimiert globale und regionale Finanzprozesse.

Nicht zuletzt – und das ist ein dritter wichtiger Faktor für erfolgreiches Krisenmanagement auf dem Kontinent – „haben wir meiner Erinnerung nach nie einen Standort in Lateinamerika dicht gemacht“, sagt Peter Rasper. Zwar seien Entlassungen nicht immer vermeidbar gewesen, aber SAP habe nach der Maxime gearbeitet, ihre Kunden nicht im Stich zu lassen und stets mit einer schlagkräftigen Truppe vor Ort zu bleiben.

Schwierige Lage in Venezuela

Das Team von SAP Andina y del Caribe mit einigen Partnervertretern auf dem Dach des Bürogebäudes in Caracas/Venezuela im Jahr 1997. Der große Mann in der ersten Reihe (6. von links) ist Eduardo Santaella, der erste Geschäftsführer. Direkt hinter ihm steht Ricardo Avila. Der 5. von rechts in der ersten Reihe ist Francisco Fernández.

Dies geschah zumindest so lange, bis die Wirtschaft in Venezuela kollabierte. Die derzeit äußerst schwierige politische und wirtschaftliche Lage in Venezuela lässt selbst SAP an Grenzen stoßen, was viele Mitarbeitenden der ersten Stunde in Lateinamerika sehr traurig macht. „Wir haben während meiner Zeit als Berater immer gesagt, dass es angesichts des Ölreichtums des Landes unmöglich ist, dass die Ölfirmen pleite gehen“, sagt Francisco Fernandez. Er war mit dabei, als die SAP 1996 ihr Büro in Caracas eröffnete. „Und jetzt ist quasi das ganze Land pleite. Es ist unfassbar.“

In den 1990er-Jahren hat die SAP von Venezuela aus ganz Mittelamerika, die Karibik und den Norden Südamerikas betreut. „Ich weiß nicht, wie viele Flugzeuge jeden Montag von Caracas aus mit SAP-Beratern an Bord in die Nachbarländer geflogen sind“, erzählt Fernandez. „Venezuela war anderen Ländern weit voraus.“

„Inzwischen mussten wir die meisten Mitarbeiter an andere Standorte verlegen“, berichtet Ricardo Avila. „Und die Kunden betreuen wir von anderen Ländern aus.“

Aber die Maxime bleibt: Egal, wie einschneidend eine Krise in Lateinamerika auch ist, sagt Avila, „wir bleiben pragmatisch und optimistisch. Und lassen unsere Kunden nicht hängen. Wir fühlen uns ihnen, der Region und unseren Kolleginnen und Kollegen gegenüber verpflichtet.“