Kunden der Chemischen Industrie brachten SAP Ende der 1980er Jahre nach Großbritannien. Den Durchbruch ermöglichte wenig später SAP R/3 – und eine in der IT-Branche noch ungewöhnliche Konstellation an der Firmenspitze.

Als Petra Frenzel 1987 zur SAP stieß war sie nicht nur eine der wenigen Frauen in der IT-Beratung. Sie war außerdem eine der Ersten, die SAP in dieser Funktion von extern einstellte. „Bis dahin wurden die Berater vorrangig aus den Reihen der SAP-Entwickler rekrutiert“, erzählt Frenzel. Einige Jahre später würde sie erneut zu einer Gruppe von Wegbereitern bei SAP – und in der gesamten IT-Branche – gehören: als weibliche Führungskraft und in ihrer Rolle als Geschäftsführerin der SAP UK.

Petra Frenzel arbeitete beim SAP-Partner Plaut als Beratungsleiterin für das R/2-Modul Kostenrechnung (RK). Als SAP eine eigene Beratungsgruppe aufbaute, berief Firmen-Mitgründer Hasso Plattner sie in die Leitung der RK-Beratung. Außerdem betraute er sie mit dem Aufbau der Münchener Geschäftsstelle. Ab 1990 wurde sie Patin für Beratungsprojekte in England und schlug damit ihren Weg in Richtung Großbritannien ein.

Doch zunächst zurück ins Jahr 1987. Als die SAP gerade 15 Jahre alt geworden war, beauftragte Hans Schlegel, der Leiter der SAP International, Reinhardt Eitner, eine britische Landesgesellschaft auf den Weg zu bringen. Die schließlich im Juli 1987 gegründete SAP UK Limited war zunächst nur eine Postadresse in London. Im Mai 1988 bezogen die zwölf Mitarbeiter aber auch Büros in Eton. Der Rafts Court, ein rotes Backsteingebäude unweit von Themse-Ufer und Schloss Windsor, wurde zum ersten Quartier der SAP UK Limited.

Das britische SAP-Büro war zu dieser Zeit nicht mehr als ein Projekt-Office, um die lokalen R/2-Implementierungen zu unterstützen. Diese wurden bei bereits bekannten SAP-Kunden, vorrangig aus der Chemie-Industrie, wie ICI, BASF und Hoechst, durchgeführt.

Mittagessen in Eton

„Durch das Eton College setzte sich der allmorgendliche Stau, um zur Arbeit zu kommen, vorrangig aus Rolls-Royces, Bentleys und Jaguars zusammen. Eton war im Grunde genommen die eine Hauptstraße mit Weinlokalen, Bistros und Pubs am Flussufer, wo wir unser Mittagessen einnahmen.“  Daran erinnert sich John Bannister, der als Mitarbeiter Nr. 10 zu SAP kam. Reinhardt Eitner hatte ihn in der Schweiz rekrutiert, weil er bereits mit SAP gearbeitet hatte. Er sprach fließend Schweizerdeutsch, was für den ersten Kontakt aus London heraus sehr nützlich sein würde. „In England wurde die Situation nach den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der frühen Achtziger gerade etwas besser und für SAP ging ich mit meiner Familie zurück nach England“, so Bannister. „Die Zusammenarbeit mit den Kollegen war unglaublich kameradschaftlich und wirklich jeder schien jeden Tag aufs Neue mit viel Freude zur Arbeit zu gehen.“

Auch wenn das Büro in Eton idyllisch gelegen war und Dienstreisende aus Deutschland in Steinwurfnähe auf einem Boot auf der Themse übernachten konnten, so war es doch bald zu klein. Die Zahl der Kunden stieg bis 1990 auf 18 Firmen, der Bedarf an Beratung wuchs entsprechend. Im Juni 1989 zog man in den Weybridge Business Park, in die Kleinstadt Weybridge etwa 30 Meilen südwestlich von London. „Freitags nahmen wir unser Mittagessen gemeinsam im Pub The Pelican am Ufer der Wey ein“, erinnert sich Sarah Wilson. Sie ist 2022 genau 30 Jahre bei SAP und arbeitet heute als Senior Business Consultant im SAP Concur Presales.

Noch war SAP in Großbritannien weitgehend unbekannt. „Wenn ich nach Hause kam und mit Freunden und Familie oder ehemaligen Kollegen sprach, fragten sie mich immer, was das für eine Firma sei und wofür SAP stehe, und dann musste ich immer weit ausholen, um alles zu erklären – es war etwas, auf das ich damals sehr stolz war und noch immer bin“, so Ray Barratt, Mitarbeiter Nr. 18 und heute Leiter des Presales für S/4HANA in EMEA North.

Ein Jahr Schulung in Walldorf

Barrat war einer der bald 40 Mitarbeiter bei SAP UK, die ein Trainee-Programm in Walldorf absolvierten. „Wir sollten ein Jahr lang in Deutschland geschult werden, gemeinsam mit 50 weiteren Leuten aus der ganzen Welt, und wir würden dafür bezahlt werden. Mein Kollege Martin Cairns fragte mich: „Also wo ist hier der Haken?“ SAP war noch eine Unbekannte, doch letztlich entschieden wir: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“

Martin Cairns war erst 22, als er 1990 den Vertrag mit SAP unterschrieb. Er war in Zimbabwe aufgewachsen und mit einem Freiticket für das Tennis-Finale der Männer in Wimbledon im Juli nach London geflogen und zum Arbeiten geblieben. Eine Agentur hatte ihm ein Vorstellungsgespräch mit einer Firma namens SAP verschafft. SAP hatte für ihn bis dahin immer nur „South African Police“ bedeutet.

„Es war eine wahre Feuertaufe, als wir 1991 zurück kamen“, so Cairns, der heute für SAP Australien arbeitet. Ray Barratt nennt es „die Definition der Chaos-Theorie“. „Unser Auftrag in den 90ern war es, gleichzeitig Trainingsaktivitäten, Presales, Vertrieb und Marketing zu unterstützen und den Namen SAP zu dem Markenzeichen zu machen, das es heute ist.“ Oftmals saß man in einem Trainingskurs, den man wenige Tage später selbst unterrichten musste. John Bannister, der „Mister R/2“ dieser Jahre, kann ein Lied davon singen. „Reinhardt Eitner fragte mich, ob ich wüsste, was RM20 sei. Ich antwortete, dass es der Kurs Einkaufslogistik sei und er erwiderte, ich solle den Kurs in der kommenden Woche halten. Einwände waren zwecklos. Es würde einfacher werden, wenn ich den Kurs drei, vier Mal gehalten hätte, tröstete mich Reinhardt.“

Der Bedarf an Mitarbeitern steigt

Der Bedarf an Personal wuchs weiter, so dass sich viele Geschichten um sehr kurzfristige und unkonventionelle Vorstellungsgespräche ranken. Legendär ist die Geschwindigkeit, mit der man Nägel mit Köpfen machte. „Als ich nach dem Vorstellungsgespräch mit meinem Auto zu Hause ankam, stand da ein Kurier, der meinen Arbeitsvertrag brachte und der darauf warten sollte, dass ich ihm den Vertrag unterschrieben zurückgab“.  Daran erinnert sich Jeremy White, der ebenfalls 1990 zu SAP kam und Direktor des Kundenservice-Bereichs werden würde. „Ein wichtiger Teil meiner Arbeit der nächsten Jahre würde auch darin bestehen, weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzustellen.“ In den kommenden zehn Jahren wuchs deren Zahl in London auf fast 700 Beschäftigte.

„Im Jahr 1991 ging es noch vorrangig darum, Stabilität in R/2-Mainframe-Projekte zu bringen“, erinnert sich Ray Barratt. „Aber 1992 sah den Anbruch der R/3-Ära und alles drehte sich nun um die Frage, was es mit diesem dreistufigen Client-Server-Konzept auf sich hatte, wenn wir doch gerade zunehmend erfolgreich mit den großen internationalen R/2-Kunden unterwegs waren.“

Zu dieser technologischen Fortentwicklung kam das Ende der Rezession, die England in den 1980er Jahren bestimmt hatte. Und: „Die Erfolgsgeschichte der SAP UK beginnt tatsächlich dann mit R/3 – das war die Zeit, zu der Petra Frenzel das Steuer als Managing Director übernahm“, erinnert sich Martin Metcalf, der 1994 zu SAP kam und 2002 selbst Geschäftsführer der SAP in Großbritannien werden würde.

Als Petra Frenzel 1993 in die Leitung der SAP UK bestellt wurde, löste sie den lokalen MD Graham Collier ab, den Reinhardt Eitner zwei Jahre zuvor eingestellt hatte. Petra Frenzel: „Graham startete unter schwierigen Bedingungen, da er die SAP vor Amtsantritt nur aus Kundensicht kannte. Hinzu kam, dass man anfänglich auch bei der SAP eine falsche Vorstellung vom Vertrieb in Großbritannien hatte. Es gab zwar erstklassige Berater, aber ein gleichwertiger, auf UK-Bedürfnisse abgestimmter Vertrieb fehlte noch.“

Mit Rückenwind zum Durchbruch

Darauf legte Petra Frenzel in den kommenden fünf Jahren als Geschäftsführerin großen Wert. Und sie nahm den Rückenwind, den ihr SAP R/3 verschaffte, entschlossen mit. „Noch bevor sich dieser Trend in Deutschland in aller Deutlichkeit abzeichnete, war das Client-Server-Produkt in England sehr nachgefragt – so wie es Hasso Plattner vorausgesehen hatte“, erinnert sich Frenzel. „Und dafür gab es in Großbritannien keine Anbieter. Zwar war man grundsätzlich skeptisch, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, aber es gab kaum Alternativen“, erinnert sie sich.

Glynn Lowth war einige Jahre Chairman der SAP UK & Ireland User Group, die sich bereits 1988 als eine der ersten Anwendergruppen weltweit formiert hatte. Er erinnert sich: „SAP R/3 war vor allem deshalb das bessere Produkt, weil es weit mehr Integrationsmöglichkeiten zu bieten hatte als die Produkte der Konkurrenz.“ Petra Frenzel lag die Verbindung zur Anwendergruppe sehr am Herzen. „Die User Group war anfangs voller Vorwürfe, die SAP nähme die besonderen Anforderungen des englischen Marktes nicht ernst genug. Das wollten wir ändern und nahmen fortan regelmäßig an den User-Group-Konferenzen teil – mit der festen Absicht, uns den Problemen unserer Kunden zu stellen.“

Seither hat sich die User Group als ein von der SAP unabhängiges, aber der SAP sehr verbundenes Gremium entwickelt. 1994 gab es schon fast 100 Kunden, die Anwenderkonferenzen wurden zu großen Ereignissen. Die SAP UK User Group hatte im Oktober 1995 bereits über 150 Mitglieder, die fast 80 Prozent der SAP-UK-Kunden repräsentierten.

SAP UK verbuchte nun ein jährliches Wachstum von 200 Prozent „und wir schafften es auf der Liste der SAP-Niederlassungen von ganz unten nach ganz oben“, erinnert sich Petra Frenzel. „In der Anfangszeit ging es darum, zu lernen, was Niederlassungen in anderen Ländern besser gemacht hatten, aber bald waren wir auf Platz drei oder vier und konnten als eine der führenden SAP-Töchter unsere Erfahrungen an andere weiter geben.“  Dabei lieferte sich SAP UK immer ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem historischen Rivalen Frankreich. „Wir plänkelten: Egal wie unsere Umsatzzahlen ausfielen – Hauptsache sie waren besser als die der SAP France“, erinnert sich Jeremy White schmunzelnd.

In die richtigen Bahnen gelenkt

Petra Frenzel war in dieser Zeit die einzige weibliche Führungskraft der SAP UK und aller SAP-Landesgesellschaften überhaupt. Es gelang ihr, das enorme Wachstum in die richtigen Bahnen zu lenken. „Ich flog montags nach London, war unter der Woche natürlich auch in England viel unterwegs und freitags ging es wieder nach Deutschland, wo ich auch verantwortlich war für die Außenstelle in München,“ so Frenzel. In den Londoner Tagen war sie fast durchgängig im Büro anzutreffen, wenn sie nicht bei Kunden war, und ihre Tür stand immer offen, erinnern sich ihre Mitarbeiter einhellig.

Die Erfolgskurve der SAP UK kannte nur eine Richtung: nach oben.

Kevin Richardson kam 1994 zu SAP UK, nach dem er bei ICI mit nur 24 Jahren an einer SAP-Implementierung mitgewirkt hatte. „Man rannte uns förmlich die Türen ein. Im Scherz sagten wir, dass wir die Türen verrammeln sollten, weil wir einfach den enormen Bedarf nicht mehr decken konnten. Wir waren nicht in der Lage, schnell genug neue Mitarbeiter einzustellen, obwohl schon jeder eingestellt wurde, der SAP nur buchstabieren konnte,“ lacht Richardson, der heute als Lead Enterprise Architect für SAP Australien arbeitet. „Und wir, die wir schon da waren, arbeiteten rund um die Uhr und an den Wochenenden.“

Dass die SAP UK eine solche Entwicklung nehmen würde, hatte man nicht erwartet. „Wer hätte gedacht, dass ein deutsches Software-Unternehmen in Großbritannien in dieser Weise förmlich durch die Decke gehen würde,“ sagt Ray Barratt. Martin Metcalf ergänzt: „Man dachte damals: ‚Kann mich mal einer kneifen‘, damit ich sicher bin, dass ich nicht träume.“

Auch Andrew Lack, heute noch bei SAP UK und für den Bereich CI Consumer Industries in London tätig, beteuert: „Wir waren überzeugt, dass wir das beste Produkt hatten für unsere Kunden. Wir waren sehr stolz darauf, für eine so technisch-innovative Firma arbeiten und Lösungen anbieten zu können, denen die Kunden wirklich vertrauen konnten.“

Doch der Erfolg stellte Frenzel und ihr Team auch vor Herausforderungen. „Zunächst waren wir gegen den Vorwurf angetreten, uns nicht ausreichend auf dem englischen Markt zu engagieren. Das schlug dann um in den Vorwurf, wir hätten nicht genügend Ressourcen für all die Implementierungen, die anstanden,“ erklärt Frenzel mit Blick auf die steile Entwicklung. Die Antwort auf diesen Vorwurf war Zuwachs bei Mitarbeiterzahlen und Büroflächen, aber auch der Ausbau von Partnerschaften. Die gut ausgebildeten SAP-Berater sollten sich zukünftig vorranging um Erstprojekte (z.B. mit neuen Modulen) kümmern. Während die Partner das restliche Geschäft abwickeln sollten, standen sie steuernd und helfend zur Seite. Die Strategie ging auf.

Für immer Teil des SAP-Netzwerks

Frenzel bekleidete das Amt der Geschäftsführerin über fünf Jahre und kann damit in der Geschichte der Geschäftsführer von SAP UK die längste Amtszeit vorweisen. Ihre Nachfolger konnten auf einem stabilen Fundament aufbauen und SAP UKI zu einer der wichtigsten Säulen des Konzerns aufbauen.

Nach Abstechern zu anderen Software-Größen kehrte Frenzel 2007 wieder zu SAP zurück, wo sie weitere sieben Jahre verbrachte.

Wie sie haben viele Akteure der ersten Jahre zwischenzeitlich die SAP UK verlassen. Entweder um zu anderen SAP-Gesellschaften zu wechseln, eigene Firmen zu gründen oder ihre IT-Karriere mit anderen Unternehmen fortzusetzen. Auffällig aber ist, wie viele von ihnen immer noch im SAP-Ökosystem oder sogar erneut bei SAP anzutreffen sind. Und viele verbindet noch immer ein enges Alumni-Netzwerk. Mit Dankbarkeit blicken die Ehemaligen auf den positiven Einfluss, den die Arbeit bei SAP auf ihre persönlichen Lebensgeschichten hatte. Zudem erinnern sie sich mit Stolz an die steile Entwicklung vom absoluten Marktneuling zum Marktführer.

 

Internationales Trainee-Programm in Walldorf 1990.  Mit Ray Barratt (letzte Reihe, 6. von links) und Martin Cairns (letzte Reihe, 2. von rechts). Im Hintergrund die Baukräne, die das heutige Gebäude WDF01 errichten.
Grund zum Jubeln: 1993 feierte das Team der SAP UK eine Überbietung des Umsatzbudgets um 319 Prozent. Links stehend am Plakat: Geschäftsführerin Petra Frenzel.
Geschäftsführerin Petra Frenzel gratuliert dem 100. Mitarbeiter David Smiley.
Führungsrolle: 1996 brachte eine Marketingkampagne SAP R/3 auch ins Londoner Straßenbild.