Der Aufbau krisenfester Lieferketten ist eines der Top-Themen von CEOs bei der Verkündung ihrer Geschäftsergebnisse und in Vorstandsetagen weltweit. Er ist nicht länger eine von vielen Prioritäten, sondern entscheidend für den Geschäftserfolg. Und CEOs geht es dabei nicht mehr nur um niedrigere Kosten, kürzere Vorlaufzeiten und höhere Qualität.
Vielmehr haben sie erkannt, dass Störungen in Lieferketten mit einem integrierten Ansatz behoben werden müssen: Unternehmen müssen bislang isolierte Funktionen miteinander verknüpfen und dürfen nicht erst dann überlegen, wie sie auf Störungen reagieren, wenn diese auftreten.
Auch Regierungen betrachten Lieferkettenprobleme zunehmend aus der Makroperspektive. Ein Beispiel dafür sind riesige Investitionsprogramme zur Stärkung heimischer Lieferketten. So will etwa die EU 43 Mrd. Euro an Investitionen im Halbleitersektor mobilisieren, während die USA 100 Mrd. US-Dollar in die Förderung nachhaltiger Energien investieren wollen. Zugleich führt die Diversifizierung von Lieferketten und die Einhaltung neuer Vorschriften dazu, dass sich die Komplexität weiter erhöht.
Unternehmen verfolgen unterschiedliche Ansätze, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Einer davon ist die Entkopplung von Lieferketten, indem mit hohem Kostenaufwand Bestände für kritische Komponenten aufgebaut werden. Weitere Optionen sind Reshoring und Nearshoring, um Fertigungs- und Lieferprozesse an Standorte in größerer Nähe zu den wichtigsten Märkten zu verlagern, im Idealfall in Länder mit ähnlichen politischen und wirtschaftlichen Systemen. All diese Strategien sind jedoch auch mit Nachteilen verbunden, etwa mit Kosten für den Unterhalt von Standorten in Märkten mit globalem Wettbewerb.
Die SAP hat es sich zum Ziel gesetzt, vernetzte Lieferketten zu schaffen und Materialflüsse durch den Einsatz digitaler Technologien nachhaltig zu optimieren. Wir sind fest davon überzeugt, dass intelligente Strategien langfristig für mehr Sicherheit in Lieferketten sorgen können. Sie helfen Unternehmen, ihre Abläufe neu zu definieren und Wertschöpfungsketten zu schaffen, die intelligenter, stärker vernetzt und reaktionsschneller sind.
Mehr Agilität durch Konsolidierung von Lieferketten
Unternehmen, die Störungen in der Lieferkette mit einem integrierten Ansatz lösen, verknüpfen isolierte Funktionen wie Beschaffung, Logistik und Fertigung miteinander. Dadurch können sie die Folgen für ihre Organisation deutlich besser abfedern. Die einzelnen Bereiche der Lieferkette müssen nahtlos zusammenarbeiten und dabei das jeweilige Lieferantennetzwerk miteinbeziehen. Denn auch eine hochpräzise Lieferkettenplanung bringt nur dann etwas, wenn Materiallieferanten die zugesagten Liefermengen und -zeiten einhalten können. Mit einer integrierten Lieferkettenplanung, beispielsweise durch die Angebots- und Nachfrageplanung in Zusammenarbeit mit dem Beschaffungswesen, verfügen Hersteller über einen wesentlich stärkeren strategischen Hebel, um Engpässe in den nachgelagerten Prozessen zu vermeiden.
Bei SAP bezeichnen wir diesen Ansatz als Design-to-Operate. Unsere Strategie besteht darin, alle relevanten Funktionen einer Lieferkette entlang durchgängiger Wertschöpfungsketten und Geschäftsprozesse eng miteinander zu verknüpfen. Indem Sie auch außerhalb des Unternehmens Ihre Lieferanten und Unterlieferanten in die Planung mit einbinden, können Sie Herausforderungen in der Lieferkette erfolgreich bewältigen. Bei Lieferengpässen ist es beispielsweise entscheidend, die Auswirkungen dieser Engpässe auf das Unternehmen zu analysieren.
Mit SAP Integrated Business Planning können Unternehmen betroffene Produktionsaufträge schnell identifizieren. Die Lösung zeigt auf, welche Kundenaufträge betroffen und welche Umsätze gefährdet sind. So können schnell geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um Engpässe abzufedern, etwa durch die Anpassung von Produktionsplänen. Der geänderte Produktionsplan für die nächsten Schichten wird umgehend an das SAP-Digital-Manufacturing-System übermittelt, das die Personal- und Ressourcenplanung entsprechend anpasst. Die Logistikabteilungen koordinieren den neuen Materialfluss in SAP Extended Warehouse Management, indem sie die richtigen Rohstoffe an die Produktion weiterleiten. Zugleich werden die Pläne für die Instandhaltung von Anlagen an die neuen Produktionsprioritäten angepasst.
So können Lieferkettenverantwortliche, die einen Design-to-Operate-Ansatz verfolgen, äußerst flexibel agieren und bei Störungen in der Lieferkette schnell mit geeigneten Maßnahmen gegensteuern.
Die branchenspezifischen Geschäftsnetzwerke von SAP: ein Paradigmenwechsel
Ganze Branchen haben erkannt, welche Vorteile die Zusammenarbeit über die Unternehmensgrenzen hinaus mit sich bringt. Lassen Sie mich dies am Beispiel eines Autoherstellers veranschaulichen, der fehlerhafte Motoren aus einer seiner Produktionslinien untersucht. Stellen Sie sich vor, er könnte den Fehler nicht nur auf eine bestimmte Charge von Komponenten eines Zulieferers eingrenzen, sondern sogar fehlerhafte Bauteile eines Unterlieferanten dieses Zulieferers identifizieren. Statt Tausende von Fahrzeugen müsste er so nur einige wenige zurückrufen.
Eine solche Problemlösung setzt die Bereitschaft zu enger Zusammenarbeit sowie den Einsatz von Technologien für einen effizienten, unternehmensübergreifenden Datenaustausch voraus. Catena-X ist ein offenes Netzwerk, das genau dies ermöglicht. Es definiert einheitliche Standards, die die Interoperabilität gewährleisten. Das Netzwerk besteht aus einem Verbund von Unternehmen, die die Hoheit über ihre Daten behalten. Sie können beispielsweise festlegen, wie lange und für welche Zwecke ihre Daten genutzt werden dürfen. Die Verbraucher wiederum können darauf vertrauen, dass die Daten aus einer zuverlässigen Quelle stammen.
Die SAP ist neben fünf weiteren Unternehmen eines der Gründungsmitglieder von Catena-X. Seit 2020 ist das Netzwerk auf 170 internationale Automobilhersteller, Zulieferer und IT-Unternehmen angewachsen. Unter ihnen befinden sich die größten deutschen Autobauer sowie zahlreiche kleine und mittelständische Unternehmen. Schon bald könnte sich Catena-X als Branchenstandard durchsetzen.
Auch das SAP Industry Network for Automotive unterstützt die Anforderungen von Catena-X. Es verknüpft Catena-X mit den zahlreichen SAP-Lösungen für die Automobilindustrie, die eine Rückverfolgung von Bauteilen, die Erfassung von CO2-Emissionen und die Steuerung von Produktionsbedarf, Produktionskapazitäten und Produktionsqualität ermöglichen. Vor Kurzem hat die SAP Geschäftsnetzwerke für weitere Branchen wie die Hightech-Industrie, die industrielle Fertigung, die Konsumgüterbranche und Life Sciences angekündigt. Weitere Angebote sind bereits geplant.
Generative KI schafft die Voraussetzungen für neuartige intelligente Funktionen
Ein wichtiges Instrument zur Verringerung der Komplexität von Lieferketten ist künstliche Intelligenz (KI). Schon vor den bahnrechenden Entwicklungen in großen Sprachmodellen (Large Language Models, LLMs) und in der generativen KI haben wir „herkömmliche“ und „fortschrittliche“ KI in unsere Lösungen für das Supply Chain Management integriert.
Mit SAP Integrated Business Planning for Supply Chain können Unternehmen beispielsweise Prognosen auf der Basis historischer Nachfragemuster erstellen. Die Lösung nutzt jedoch auch moderne Funktionen für maschinelles Lernen, um Bedarfsprognosen mithilfe von Point-of-Sales-Daten zu optimieren und die Planungsqualität mit selbstkorrigierenden Stammdaten und Prognosen zur Vorlaufzeit zu erhöhen. In Zukunft wird generative KI völlig neuartige intelligente Funktionen wie diese ermöglichen:
- Bessere Mensch-Maschine-Interaktion: Mit unserem neuen integrierten Assistenten Joule auf Basis generativer KI werden Anwender schon bald sehr viel natürlicher mit ihrem System interagieren können. Sie können den Assistenten zum Beispiel fragen, welche Aufträge des Kunden X für Produkt Y in Mittelamerika noch nicht erfüllt wurden. Joule liefert die richtige Antwort, indem der Assistent Daten aus verschiedenen Systemen und Bereichen auf intelligente Weise kombiniert, da er in das gesamte SAP-Cloudportfolio integriert wird.
- Förderung der Kreativität: Ähnlich wie ein Sparringspartner kann generative KI Designer, Entwickler und Produktmanager dabei unterstützen, in einem Innovationszyklus neue Produktideen zu entwickeln und mit SAP Enterprise Product Development nach und nach zu optimieren.
- Umwandlung unstrukturierter Daten: Stellen Sie sich einen Lkw vor, der eine Fracht im Lager anliefert. Der Lagerist weiß, welche Fracht erwartet wird, da die Frachtinformationen in einem SAP-System gespeichert sind. Was der Lkw tatsächlich geladen hat, steht jedoch auf einer Ladeliste, die häufig aus einem Papierformular besteht. Diese Daten digital verfügbar zu machen ist schon länger möglich und wird als optische Zeichenerkennung (Optical Character Recognition, OCR) bezeichnet. Tools auf Basis generativer KI können nun die unstrukturierte Ladeliste mit den bereits im System vorhandenen strukturierten Daten abgleichen – und zwar im Bruchteil einer Sekunde.
Der Einsatz von KI zur Ausweitung und langfristigen Sicherung der Geschäftsaktivität ist für Unternehmen nicht länger eine Option. Dies wird am zunehmenden Fachkräftemangel unter anderem in der Fertigungsindustrie deutlich. Dort werden im Jahr 2030 bis zu 85 Millionen Arbeitskräfte fehlen, was in etwa der Einwohnerzahl von Deutschland entspricht!
Durch Automatisierung von Routineaufgaben mithilfe moderner KI-Funktionen können wir diese Lücke schließen und es Fachkräften ermöglichen, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren: auf der Grundlage von Daten fundierte Entscheidungen zu treffen.
Menschliche und künstliche Intelligenz arbeiten dabei Hand in Hand – es ist ein Duett und kein Duell.
Wir unterstützen unsere Kunden bereits heute beim Aufbau krisenfester Lieferketten und einer nahtlosen Vernetzung von Prozessen, um produktive, agile und automatisierte Geschäftsabläufe zu unterstützen. Indem wir die Möglichkeiten generativer KI nutzen, können wir nun dafür sorgen, dass die Schaffung widerstandsfähiger Lieferketten CEOs keine schlaflosen Nächte mehr bereitet.
Thomas Saueressig ist Mitglied des Vorstands der SAP SE und für den Vorstandsbereich SAP Product Engineering verantwortlich.