Im Oktober 2020 feiert Deutschland 30 Jahre Wiedervereinigung. Der Osten musste nicht nur den Wandel von einer Plan- zur Marktwirtschaft meistern. SAP spielte dabei eine wichtige Rolle und bewies echten Pioniergeist.
Als in Berlin am 9. November 1989 die Mauer fällt, sitzen Hasso Plattner und seine Mitgründer Klaus Tschira und Hans-Werner Hector gerade in den USA in einem Konferenzraum in Princeton, New Jersey. Zusammen tauschen sie sich bei der ersten SAPPHIRE mit zahlreichen Kunden über deren Anforderungen an SAP-Software aus. Im heimischen Walldorf hält der vierte SAP-Gründer Dietmar Hopp die Stellung.
Die Wende kommt ohne jegliche Vorwarnung. „Es war für die meisten von uns völlig außerhalb jeder Vorstellungskraft, dass die Mauer fällt“, sagt Alfred Wenzel, der die Ausdehnung der SAP gen Osten in den folgenden Monaten und Jahren maßgeblich mit vorantreiben wird. Aber so überraschend sich für die Software-Firma mit rund 1.600 Mitarbeitern neue Horizonte eröffnen, so energisch ergreifen die Verantwortlichen die Chance, diese Absatzmärkte zu erschließen. Sie leisten damit auch einen gewichtigen Beitrag zur Vereinigung der beiden Deutschlands mit ihren unterschiedlichen Wirtschaftssystemen.
Die Expansion der SAP in dem am 3. Oktober 1990 wiedervereinigten Osten des Landes ist ein spannendes Kapitel in der Geschichte des Unternehmens. Klar, dass die Geschichte in Berlin beginnt.
Verbindung halten nach Ost und West
Die Stadt sollte Anfang 1990, also nur wenige Wochen nach dem Mauerfall, ein wichtiger Standort im neuen Ostgeschäft werden, doch die Wohn- und Büroraumsituation war sehr schwierig – SAP war nicht die einzige Firma, die in dieser Zeit nach Berlin kam. Die Mietpreise waren horrend, und so quartierte man sich zunächst im Ostberliner Grand Hotel – heute Westin Grand – ein. „Da konnte man zum einen in das DDR-Netz reintelefonieren und gleichzeitig aber mit dem Westen Kontakt halten“, so Alfred Wenzel, damals Regional Manager für den osteuropäischen Wirtschaftsraum.
Die Situation verlangte nach Technik, wie sie zu dieser Zeit keineswegs Standard war. Alfred beschaffte sich ein mobiles Büro mit tragbarem Fax- und Telefongerät. Das Fax war wichtig, um Infos mit Walldorf auszutauschen und den potenziellen Kunden konkrete Vertragsangebote vorlegen zu können. Walter Bachmann, Beratungsleiter der Berliner Geschäftsstelle, erinnert sich: „Wenn aber ein Kunde einen Vertrag abschließen wollte, dann war eine Zusage per Fax nicht juristisch sicher. Es musste ein rechtlich verbindliches Telex nach Walldorf geschickt werden.“
Auf der Suche nach geeigneten Mitarbeitern
Als Kernteam für die DDR hatte Alfred Wenzel im Frühjahr 1990 drei Führungskräfte ausgewählt: Walter Bachmann als Beratungsleiter Rechnungswesen, Peter Philipps als Beratungsleiter Logistik und Wolf-Dietrich Seidel als Vertriebsleiter. Die erste Hauptaufgabe in Berlin war, so Walter Bachmann, Personal für die neue Geschäftsstelle einzustellen, was sich als echte Herausforderung erwies. Der junge Beratungsleiter hatte zwar bereits Erfahrung als Führungskraft, aber mit der Art der Bewerbungen der Ostdeutschen war er nicht vertraut. Er wusste nicht genau, was hinter den Zeugnissen und Abschlüssen aus DDR-Zeiten steckte.
Thomas Harnisch und zwei seiner Kollegen des VEB Kombinat Elektro-Apparate-Werke Berlin waren unter den ersten Bewerbern. Sie waren durch Broschüren aufmerksam geworden, die ihr Chef von der Leipziger Frühjahrsmesse 1990 mitgebracht hatte.
Waschkörbe voller Bewerbungen
Für die zweite Einstellungsphase hatte man eine große Annonce in den DDR-Zeitungen Neues Deutschland und Berliner Zeitung geschaltet und der Zulauf war beträchtlich. Eine der rund 2000 Bewerbungen kam von Heidelore Castro, die heute den Bereich Unit Banking EMEA leitet. Wesentliche Kriterien, sich auf die Stelle des SAP-Beraters zu bewerben, waren für sie „die internationale Ausrichtung der Firma und die an Software gekoppelten Themen Rechnungswesen und Unternehmenssteuerung“.
Bei SAP hatte man nun „Waschkörbe voller Bewerbungen“ zu sichten, um schließlich 100 Kandidaten für Vorstellungsgespräche auszuwählen. Walter Bachmann: „Es war eine fantastische Aufbruchsstimmung, aber man spürte deutlich, dass hinter jeder Bewerbung Schicksale steckten.“
Daraus ergab sich natürlich auch eine bis dato nicht dagewesene Zahl an Bewerbungsgesprächen. Alfred Wenzel: „Wir haben an den Wochenenden von Freitagmittag bis Sonntag die Leute interviewt. Da hat jeder mitgemacht, auch der Vorstand. Das war sehr anstrengend, aber wenn Herr Hopp auch dabei ist, dann ist das ein klares Signal, wie wichtig das jetzt für uns ist.“
Die Bewerbungsgespräche fanden im SAP-Gebäude in der Walldorfer Max-Planck-Straße (MPS, heute WDF08) statt. Thomas Harnisch: „Wir fanden uns im Empfangsbereich des MPS ein. Als Dietmar Hopp die Bewerber begrüßte, scherzte er angesichts unserer förmlichen Business-Kleidung, dass die SAP doch eher eine ‚hemdsärmelige Firma‘ sei.“
Auch Ralf Michel gehörte zu den „Neuen“ und erinnert sich gerne an diese Zeit: „Uns wurde sehr viel Vertrauen entgegen gebracht. Es war ein toller Zusammenhalt, fast wie in einer Familie. Und wir konnten tatsächlich das erleben, was Dietmar Hopp als Anspruch formuliert hatte: Die Mitarbeiter sollten am Erfolg der Firma teilhaben.“
Investitionen in die Mitarbeiter
Ab April 1990 wurden in der Nonnendammallee 101 in Berlin ein Sekretariatsraum und ein Demo-Raum bei der Siemens-Tochterfirma SIETEC angemietet. Diese Geschäftsstelle war zunächst nicht mehr als eine formale Adresse, denn die frisch eingestellten Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten waren im ersten halben Jahr durchgehend auf Schulungen in Walldorf. „Wir waren noch nicht gleich ab Einstellung einsatzfähig. SAP investierte sehr in die Mitarbeiter, um die Kunden danach in höchster Qualität betreuen zu können“, so Heidelore Castro, die eine von nur sechs Frauen unter den 70 Neueinstellungen war.
In den ersten Monaten hatte SAP den ostdeutschen Mitarbeitern Pool-Wagen zur Verfügung gestellt, um zu Schulungen zur SAP-Zentrale zu fahren. „Einer der Kollegen war mit dem Trabi nach Walldorf gekommen und den wollte Dietmar Hopp dann in der Mittagspause anschauen, weil er noch nie einen aus der Nähe gesehen hatte“, erzählt Thomas Harnisch. Ab der zweiten Einstellungswelle gab es dann Busse, die die neuen Mitarbeiter zu Schulungen nach Walldorf brachten.
Der Bekanntheitsgrad steigt
Ein „richtiger Paukenschlag“, so Wenzel, war der SAP-Kongress im Internationalen Congress Centrum Berlin im September 1990 zum Thema „Integrierte Standardsoftware zur Unternehmensführung in der DDR“, denn dieser erhöhte den Bekanntheitsgrad der SAP im Osten enorm. „Bei diesem dreitägigen Kongress wurde das ganze Spektrum der Betriebswirtschaft und auch der SAP-Anwendungen behandelt und gezielt Werbung dafür gemacht.“
Dietmar Hopp, Gerd Oswald, Paul Neugart und viele andere stellten die SAP und ihre Programme vor. „Alle Referenten hatten Rang und Namen und vor allen Dingen auch Kompetenz“, so Wenzel. Vor allem der damalige Vorstandsvorsitzende Dietmar Hopp machte Eindruck. Beratungsleiter Walter Bachmann: „Hopps Besuche waren sensationell – er hatte eine Ausstrahlung, die auf die ostdeutschen Führungskräfte eine große Wirkung zeigte. Das war sehr wichtig, denn während viele westdeutsche Firmen gegenüber den Ostdeutschen ‚nur das Beste‘ wollten, nämlich ihr Geld, konnte Herr Hopp vermitteln: ‚Wir helfen Euch!‘“.
Es hatte sich herumgesprochen, dass die SAP etwas zu bieten hatte, was die ostdeutschen Firmen jetzt ganz dringend benötigten: eine Software, mit der sie die Umstellung von Plan- auf Marktwirtschaft und vor allem die neue Gesetzgebung auf Ebene der Personalwirtschaft umsetzen konnten und die dabei helfen sollte, ihr Unternehmen auf dem neuen Markt konkurrenzfähig zu machen. Bachmann: „Das Motto war: Ihr kauft Euch auch Betriebswirtschaft.“
Sprungbrett nach Osten
Nachdem etwa 70 neue Mitarbeiter eingestellt worden waren, galt es für die SAP-Führungskräfte von einem auf den anderen Tag, ein großes Team zu leiten. Die Neuzugänge hatten viel zu bieten. Thomas Harnisch: „Viele der Kollegen, die eingestellt wurden, hatten in der Sowjetunion studiert oder sprachen zumindest sehr gut Russisch. Da konnte man sehen, wohin die Reise gehen sollte: Weitere Märkte, etwa die damalige UdSSR und andere Ostblock-Staaten, sollten mit Hilfe der ostdeutschen Mitarbeiter und über die DDR erschlossen werden.“
Bei der Personalauswahl hatte Alfred Wenzel gezielt auf die Befähigung für Einsätze in anderen osteuropäischen Ländern, insbesondere der UdSSR, geachtet. „Die Fachkräfte wurden lange vor ihrem jeweiligen Auslandseinsatz und sehr schnell in den Projekten zur Entwicklung landesspezifischer Versionen der SAP-Software eingesetzt. Hier bewährten sie sich und erarbeiteten sich die Fähigkeiten, die sie brauchten, um später die Kerntruppe des jeweiligen osteuropäischen Landes zu bilden.“
Die neuen Kolleginnen und Kollegen waren ihrerseits froh, in den unruhigen Wende-Zeiten eine Anstellung zu erhalten. Und besonders freuten sie sich über die Eröffnung der Geschäftsstelle in der Waldstraße Anfang 1991, erinnert sich Hans-Günter Heinel, der mit der zweiten Welle der Einstellungen im September 1990 zu SAP gekommen war.
Diese Räume – etwa 4000 Quadratmeter in der zweiten Etage über einem Baumarkt – boten dann auch Platz für ein eigenes Schulungszentrum und sollten bis zum Umzug in das neue SAP-Büro in der Rosenthaler Straße im Jahr 2003 für über zehn Jahre ein Zuhause für die Berliner Geschäftsstelle im vereinigten Deutschland bleiben.
Beratung, Beratung
Barbara Schennerlein studierte in Dresden Maschinenbau, kam 1990 als SAP-Beraterin zur neuen Berliner SAP-Geschäftsstelle und wurde mit Projekten in der Produktionsplanung und -steuerung betraut. Anfänglich war ihr nicht bewusst, dass die Beratertätigkeit nicht nur hin und wieder eine Geschäftsreise bedeuten würde. Doch heute ist sie froh, dass sie damals dadurch nicht von einer erfolgreichen Karriere bei SAP abgehalten wurde. 1998 wurde sie als Arbeitnehmervertreterin in den Aufsichtsrat gewählt – ein Amt, dass sie bis 2007 bekleidete. Nach 20 Jahren Beratung war sie dann für die Dresdener Forschungsabteilung SAP Research tätig.
Ihren drei Kindern hat sie so manches Mal die Geschichte erzählt, als sie für eine Hamburger Firma sehr erfolgreich ein SAP-Projekt durchgeführt hatte und der dortige Projektleiter, ein älterer Herr, sehr respektvoll und freundlich mit ihr umgegangen war. „Bis zu dem Moment, als ich ihm sagte, dass ich drei Kinder hatte. Sofort veränderten sich seine Gesichtszüge und sein Tonfall und er herrschte mich an, was ich mir erlauben würde, mit drei Kindern zu arbeiten, wo es doch im Osten so viel arbeitslose Männer gäbe, denen ich die Arbeit wegnehmen würde.“ Nichtsdestotrotz hatte dieser „sonderbare Zwischenfall“ die erfolgreiche Durchführung des Projektes nicht behindert.
„Es sind die Familien, die diese Entscheidung für sich treffen müssen“, so Heidelore Castro, die nach langjähriger Beratertätigkeit heute den Bereich Unit Banking EMEA leitet. „Der Beraterberuf ist nicht einfach für eine Partnerschaft, aber auf keinen Fall unmöglich! Mein erster Vorgesetzter sagte damals zu uns, als wir am Anfang unserer reisenden Tätigkeit standen: ‚Und ich will nichts von Scheidungen hören. Geht behutsam mit Euren Partnerschaften um.‘ Ich bin meinem Mann sehr dankbar, dass er meine berufliche Entwicklung all die Jahre begleitet hat.“