Mit dem „Weiter so“ in der globalen Wirtschaft ist spätestens seit Corona Schluss. Doch wer nachhaltiges, zukunftsfähiges Wirtschaften fordert, muss auch Unternehmensbilanzen neu denken und ökologische oder soziale Leistungen integrieren. Das Projekt QuartaVista zeigt, wie es geht.
In Überlingen am Bodensee rollen zwei Hybrid-LKW über den Hof des Bio-Großhändlers BODAN. Im Elektromodus sparen sie nicht nur Treibstoff, sondern sind auch extrem leise, was Anwohner besonders bei der Nachtauslieferung schätzen. Diese Vorteile gibt es jedoch nicht umsonst: Die Mehrkosten von 45.000 Euro gegenüber einem herkömmlichen LKW schlagen sich in der Unternehmensbilanz als Aufwand nieder. Wenn BODAN dennoch die Investition auf sich nimmt, hat das eher etwas mit dem Selbstverständnis des Öko-Pioniers zu tun.
Traditionelle Bilanzierungsmethoden schauen allein auf die finanzielle Dimension, und so gesehen ist Nachhaltigkeit für Unternehmen ein reiner Kostenfaktor.
Mit dieser Thematik beschäftigt sich Christian Hiß, Gründer und Vorstand der Regionalwert AG Freiburg, speziell auf dem Gebiet der Landwirtschaft: „Ich habe schon vor über zwanzig Jahren entdeckt, dass zwischen der Betriebsrealität im landwirtschaftlichen Betrieb und der Abstraktion in Buchhaltung und Bilanzierung eine Diskrepanz herrscht, dass sie im Hinblick auf soziale, ökologische und andere Faktoren unvollständig ist.“
Inzwischen sind die Zeichen eines gesellschaftlichen Wertewandels kaum zu übersehen: Die Weltgemeinschaft setzt mit den globalen Zielen für Nachhaltige Entwicklung (SDGs) neue Maßstäbe. Hinzu kommt, dass die Corona-Pandemie die Zerbrechlichkeit globaler Lieferketten aufzeigt und die Nachfrage nach regionalen, ökologisch erzeugten Produkten verstärkt. Wer wirksame Anreize für Unternehmen schaffen will, sich für Klima- und Umweltschutz, regionale Erzeugung oder die Ausbildung von Arbeitskräften zu engagieren, sollte Nachhaltigkeit nicht nur als ideellen Wert verstehen, sondern in die Sprache der Wirtschaft, die Rechnungslegung, übersetzen.
QuartaVista – ein Modell für die ganzheitliche Bilanzierung
Genau das ist die zentrale Aufgabenstellung des Innovationsprojekts QuartaVista („vier Perspektiven“), das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert wird.
„Ich denke, wir sind am Anfang einer Bewegung. Nachhaltigkeit wird ein so großer wirtschaftlicher Entscheidungsfaktor werden, dass eine klassische Gewinnmarge in sichtbarer Zukunft nicht mehr den Stellenwert haben wird wie bisher“, erklärt Reiner Bildmayer, Projektleiter für QuartaVista bei SAP.
Als „Experimentierraum“ erweitert QuartaVista den Blick auf Unternehmen von einer auf vier Perspektiven: Finanzen, Ökologie, Soziales und Wissen. Die Projektpartner sind die Firmen Bingenheimer Saatgut, BODAN Großhandel für Naturkost, Bohlsener Mühle, Cognostics, Parmenides Stiftung, Regionalwert AG Freiburg und SAP. Gemeinsam erproben sie, wie nachhaltiges Handeln in konkrete Kennzahlen gegossen werden kann.
„Das Neue an QuartaVista ist, dass man Leistungen für nachhaltiges Wirtschaften, aber auch Risiken, in der Bilanz auf der Positiv- bzw. der Negativseite abbildet und dadurch in der Konsequenz zu einem nachhaltigeren Wirtschaften kommt“, erklärt Hiß.
Konkrete Kennzahlen entwickeln
Doch welche Ziele und Kennzahlen sollen gemessen werden? Und wie, fragen die Kritiker, kann man Investitionen in Nachhaltigkeit objektiv bewerten?
Die Regionalwert AG Freiburg und andere Projektpartner haben den Anfang gemacht und konkrete Kennzahlen definiert, die sich unter anderem aus den 17 SDGs ableiten. Am Beispiel des Ziels 4, Bildung, kann man sich etwa fragen: Wird Wissensvermögen im Betrieb aufgebaut und gehalten oder geht es verloren?
Nachhaltigkeitsleistungen können bilanziell erfasst werden, bekräftigt Hiß. „Das Entscheidende ist, den richtigen Leistungsfaktor, das richtige Buchhaltungskonto zu finden, und in QuartaVista zeigen wir, dass es geht.“
Die Rolle der SAP ist es, die Bilanzierung nach QuartaVista in einem softwareunterstützten Dashboard abzubilden. Über das Dashboard lassen sich Nachhaltigkeitsmaßnahmen in einer Art und Weise abbilden, die auch in der Finanzwelt verstanden wird. „Wir versuchen, Nachhaltigkeitswerte messbar darzustellen und in die Finanzwelt zu schieben – und damit habe ich auch eine Sichtbarkeit“, erklärt Bildmayer.
Faire Preise und Transparenz für den Verbraucher
Werden Werte aus den drei Dimensionen Wissen, Ökologie und Soziales als betriebliche Vermögensart betrachtet, können sie auch mit eingepreist werden. Die BODAN GmbH steht seit ihrem Anbeginn im Wettbewerb mit der konventionellen Lebensmittelindustrie. Wenn man nur das Preisschild betrachtet, schneiden die Ökoprodukte erst einmal schlecht ab. Dabei haben gerade die zurückliegenden Monate mit der Corona-Pandemie gezeigt, dass die Konsumenten nicht-materielle Werte wie Regionalität, Frische und Transparenz stärker in ihren Verbraucherentscheidungen wertschätzen. Im Frühjahr 2020 verzeichnete BODAN Umsatzsprünge von bis zu 40 Prozent pro Monat, die nicht allein auf den Wegfall der Außer-Haus-Verpflegung und die erhöhte Bevorratung der Privathaushalte zurückzuführen sind.
„Wenn man die nicht-materiellen Leistungen der ökologischen Landwirtschaft in die Kalkulation einbezieht, wie Boden- und Wasserschutz, dann sind diese Produkte schon heute günstiger als konventionell erzeugte Produkte“, argumentiert Sascha Damaschun, einer der Geschäftsführer von BODAN. So investiert BODAN beispielsweise in eine ökologische Pflanzenzüchtung und nachhaltige Saatgut-Entwicklung. „Die genetische Vielfalt unserer Nutzpflanzen ist ein relevanter ökonomischer Wert“, erklärt Damaschun. Dabei seien nachhaltig gezüchtete Pflanzen oft resilienter gegenüber Klimaveränderungen als Hochleistungssorten aus dem konventionellen Landbau, kämen ohne chemisch-synthetische Dünge- oder Pflanzenschutzmittel aus. Die Investitionen von ca. 70.000 Euro in den Jahren 2014 bis 2019 kann BODAN im QuartaVista-Dashboard nicht nur auf der Soll-, sondern auch auf der Habenseite verbuchen.
Die Debatte zieht längst größere Kreise. So forderte die Politikökonomin und Nachhaltigkeitswissenschaftlerin Professor Dr. Maja Göpel in einem ZDF-Interview: „Die Preise müssen die ökologische Wahrheit sagen. Bisher haben jene Firmen einen Vorteil, die ihre Umweltkosten externalisieren. Wie schaffen wir es also, die Steuer- und Abgabensysteme so zu korrigieren, dass Unternehmen mit nachhaltigen Geschäftsmodellen wettbewerbsfähig werden? Es wäre eine ganz, ganz wichtige Korrektur, Umweltverbrauch so zu bepreisen, dass jene Unternehmen sich positiv absetzen können und jene Technologien in den Markt kommen, die genau dieses nachhaltige Wirtschaften ermöglichen.“
Nachhaltigkeitskennzahlen als strategisches Steuerungsinstrument
Unternehmen wie BODAN sind seit Jahren in der Nachhaltigkeitsberichterstattung aktiv. Nachhaltigkeitsberichte bilden jedoch naturgemäß das Vergangene ab und stehen außerhalb der Unternehmensbilanz. Das Modell QuartaVista greift hingegen auf der Basis monetärer Werte in die Zukunft und bietet Einsichten bereits an dem Punkt, an dem Investitionsentscheidungen getroffen werden. Somit ist QuartaVista als ein Navigationssystem zu verstehen, das Unternehmen bei einer zukunftsgerichteten Steuerung unterstützt.
Auch die Bohlsener Mühle in der Lüneburger Heide verarbeitet aus Überzeugung 100 Prozent biologische Rohstoffe, 40 Prozent davon aus der Region, beim Hauptprodukt Getreide sogar 85 Prozent. Nachhaltigkeit gehört daher seit den Anfängen 1979 zur DNA des Unternehmens. Daraus leitet der Betrieb sein gesamten Handeln ab, etwa die Nutzung von Ökostrom. Die hauseigene Dinkelspelzenheizung erzeugt Wärme aus den Beiprodukten der Dinkelverarbeitung und versorgt vor Ort 75 Haushalte mit Wärme. So wurden im Jahr 2019 400 Tonnen CO2 eingespart. Aktuell erlebt auch die Bohlsener Mühle, dass die Corona-Pandemie die Nachfrage nach regionalen und ökologisch hergestellten Produkten verstärkt hat.
Die QuartaVista-Methode greift tief ins Unternehmensgeschehen des Bio-Pioniers ein. Als Kennzahlen hat Bohlsener Mühle unter anderem Wissenserhalt und -aufbau, die Klimabilanz oder die Arbeitsqualität in der Lieferkette definiert. Diese Nachhaltigkeitskennzahlen sollen in der Bilanz gleichrangig sein mit wirtschaftlichen Kennzahlen, erklärt Philip Luthardt, Nachhaltigkeitsmanager bei Bohlsener Mühle.
Für die Mitarbeiter sei dies eine große Umstellung: „Jetzt sollen sie sich plötzlich neben Umsatzrendite und Produktionszahlen auch an Nachhaltigkeitskennzahlen messen lassen.“ Doch gleichzeitig erlange Nachhaltigkeit eine andere Wertschätzung im Unternehmen. „Das ist eine neue Denke, mit der wir Nachhaltigkeit in die entscheidenden Stellen von Unternehmenssteuerung und -bewertung integrieren können“, so Luthardt.
Echte Konsequenzen für echten Wandel
Auch die Bingenheimer Saatgut AG hat Nachhaltigkeit als Unternehmensziel verankert. „Man verkauft nicht nur ein Produkt“, erklärt die kaufmännische Leitern Isabelle Sanchez „man braucht als Unternehmen eine Kultur, ein Leitbild.“ Zu diesem Anspruch gehört, dass der Saatguthersteller primär regionale Bezugsquellen und erneuerbare Energien nutzen und befristete Arbeitsverträge reduzieren will. Die große Welle an Bestellungen während der Coronakrise, etwa zweimal so viele wie im Vorjahr, gibt Bingenheimer Saatgut recht.
Wenn die Gesellschaft wirklich einen Wandel zu mehr Nachhaltigkeit will, muss dies Konsequenzen haben: „Wenn ein Unternehmen beispielsweise Ökostrom nutzt, sollte es einen bilanziellen oder steuerlichen Vorteil haben gegenüber einem Konkurrenten, der Atomstrom bezieht“, so Sanchez.
Denkt man das weiter, würden sich die Gewichte auf dem Markt verschieben: „Wenn Unternehmen solche Risiken in die Bilanz übernehmen müssen, wenn es Normen gibt, die für alle gelten und die von Wirtschaftsprüfern nachgeprüft werden, dann sind alle verpflichtet, etwas zu tun“, so Sanchez, „denn sonst wären sie nicht mehr konkurrenzfähig.“ Langfristig sieht Sanchez in QuartaVista ein Instrument, „das uns in Zukunft helfen wird, den Klimawandel in den Griff zu kriegen.“
Die Projektpartner legen Wert darauf, dass QuartaVista „streng in der Logik des Wirtschaftens“ bleibt, so Hiß, und damit eine Vision für einen reellen wirtschaftlichen Wandel schafft. Das Projekt, das im Herbst 2018 begann, läuft noch bis Ende Februar 2021.
Mehr über QuartaVista – Navigationssystem für nachhaltiges Wirtschaften:
QuartaVista ist eines von 17 Projekten, die im Rahmen der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ (INQA) und der Richtlinie „Zukunftsfähige Unternehmen und Verwaltungen im digitalen Wandel“ (Lern- und Experimentierräume) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gefördert und von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin fachlich begleitet werden. Die Experimentierräume der INQA dienen zum Testen neuer Ideen und zum Erfahrungsaustausch. Mehr Details erfahren Sie im Podcast.