Mit integrierten IoT-Sensoren und einem digitalen Zwilling macht eine Brücke im Norwegen das Wartungspersonal auf akute Schäden aufmerksam.
Kjetil Sletten bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Er ist bei der norwegischen Straßenbaubehörde (Statens vegvesen) als leitender Ingenieur für die Instandhaltung von Brücken zuständig. Als Kjetil Sletten jedoch im April 2021 eine automatische Benachrichtigung erhielt, dass Bewegungssensoren einer Brücke in Mittelnorwegen ausgeschlagen hatten, sagte ihm sein Bauchgefühl, dass er sich die Sache besser selbst ansehen sollte.
Norwegische Brücken genügen höchsten Sicherheitsstandards. Die fast 80 Jahre alte Stavå-Brücke entlang der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung des Landes ist jedoch für die Straßenbaubehörde ein Dauerproblem. Wie so viele ältere Brücken auf der ganzen Welt war auch die Stahlbetonbrücke in Norwegen ursprünglich für weniger als die Hälfte der heutigen Verkehrslast ausgelegt. Bereits vor dem Ereignis im April durfte sie von Lastwagen nur in jeweils einer Richtung und mit gedrosselter Geschwindigkeit passiert werden.
Als Kjetil Sletten die Brücke begutachtete, konnte er spüren, wie sich die Stahlbetonkonstruktion unter ihm bewegte. „Ich sah, wie sich das Brückenende mit jedem Lastwagen, der die Brücke passierte, auf und ab bewegte. ,Das sieht nicht gut aus‘, dachte ich mir“, berichtet er. Er stellte fest, dass eines der Brückenwiderlager nicht mehr gestützt wurde und frei schwebte. Kjetil Sletten machte kurzen Prozess: Er blockierte die Fahrbahn Richtung Norden mit seinem Wagen und rief die Straßenmeisterei an, damit sie den Verkehr regelte. (Mittlerweile wird der Verkehr über eine Behelfsbrücke geleitet, bis der Bau einer neuen Brücke abgeschlossen ist.)
IoT-Sensoren und digitaler Zwilling bieten Echtzeitinformationen
Dank einer Lösung von SAP konnte Kjetil Sletten schnell reagieren. Sie verbindet IoT-Sensoren mit der Technologie digitaler Zwillinge und Anlageninformationen und gewährt so Echtzeiteinblick in das Verhalten der Brücke. Mit SAP Enterprise Product Development stehen neue Tools zur Verfügung, mit denen Behörden Bauwerke wie Brücken aus der Ferne überwachen, Wartungsarbeiten planen und in Extremfällen auch strukturelle Schäden vorhersagen können.
Die 5.800 Brücken Norwegens sind im Schnitt 36 Jahre alt und werden alle fünf Jahre routinemäßig überprüft. Generell gelten die Brücken als sicher. Weiser Voraussicht und glücklichen Umständen war es jedoch zu verdanken, dass die norwegische Straßenbaubehörde die Stavå-Brücke als Testobjekt für ein neues Echtzeitüberwachungs- und Prognosesystem auf Basis eines digitalen Zwillings ausgewählt hatte. „Ich möchte mir gar nicht erst vorstellen, was hätte passieren können, wenn wir die Brücke nicht mit diesen Sensoren ausgestattet hätten“, erzählt Trond Michael Andersen, der bei der Statens vegvesen als technischer Leiter für Betrieb und Instandhaltung verantwortlich ist. „Dank der Sensoren hatten wir genauen Einblick in den Zustand und die Stabilität der Brücke und waren in der Lage, eine kritische Situation zu erkennen, zu analysieren und umgehend zu reagieren.“
„Wir waren in der Lage, eine kritische Situation zu erkennen, zu analysieren und umgehend zu reagieren“
Abnutzungserscheinungen an Brücken sind größtenteils mit bloßem Auge nicht erkennbar. Mit neuesten Technologien für digitale Zwillinge lässt sich Materialbeanspruchung jedoch feststellen, bevor sie strukturelle Schäden nach sich zieht. „Mit der Cloud-Lösung von SAP kann die Statens vegvesen umgehend auf ungewöhnliches Verhalten reagieren und das Problem frühzeitig lokalisieren – auch an Stellen, die Ingenieure nicht inspizieren können“, erklärt Marit Reiso, leitende Projektmanagerin für SAP Enterprise Product Development. „Das bringt zusätzliche Vorteile mit sich, da bei Routinekontrollen die Brücke für den Verkehr gesperrt werden muss, um sie vollständig begutachten zu können. Außerdem werden strukturelle Probleme möglicherweise nicht erkannt, wenn die Brücke nicht in Betrieb ist.“
Zwar hätte ein späteres Erkennen des baulichen Mangels der Stavå-Brücke nicht zum Einsturz geführt, doch sehr wahrscheinlich wären größere Schäden die Folge gewesen. Für die dann erforderlichen Sanierungsarbeiten hätte eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen des Landes für längere Zeit gesperrt werden müssen. „Brücken sind nicht nur wichtig, weil sie die Fahrtzeit verkürzen“, erläutert Trond Michael Andersen. „Sie sind auch entscheidend für Krankenwagen und Rettungssanitäter, die bei Noteinsätzen Menschenleben retten.“ Die Zwangssperrung einer wichtigen Brücke über den Mississippi in den USA zeigt, welche Folgen es für das Transportwesen haben kann, wenn eine Brücke aufgrund mangelnder Verkehrssicherheit gesperrt werden muss.
Für Millionen von Brücken auf der ganzen Welt hat ein Wettlauf mit der Zeit begonnen. Allein in den USA weisen rund 54.000 der mehr als 600.000 Brücken „bautechnische Mängel“ auf. Auch europäische Länder schlagen Alarm, dass ohne entsprechende Überwachungs- und Sanierungsmaßnahmen vermehrt mit verheerenden Folgen wie dem Einsturz der Morandi-Brücke in Genua zu rechnen ist. Experten gehen davon aus, dass die wirtschaftliche Entwicklung der BRIC-Staaten und anderer Wachstumsmärkte zu einer stärkeren Straßennutzung führen und damit das Problem weiter verschärfen wird.
Straßen werden zunehmend digital, intelligent und automatisiert
Trond Michael Andersen weiß um die Vorteile, die der Einsatz von Technologie für die Sicherheit von Norwegens Straßen mit sich bringt. Das zerklüftete Land mit seinen zahlreichen Inseln, Fjorden und Bergen verfügt über ein komplexes, 94.000 km langes Straßennetz mit vielen Brücken und Tunneln – viele davon in abgelegenen Regionen. Die norwegische Straßenbaubehörde wird in Kürze ein Anlagenmanagementsystem für die Kontrolle, Überwachung und Sanierung einführen. „Straßen werden zunehmend digital, intelligent und automatisiert. Die Anforderungen an ein Anlagenmanagementsystem für die Verwaltung aller erfassten Daten werden deshalb steigen. Wir erhoffen uns von dem neuen System bessere Prognosemöglichkeiten“, erklärt Trond Michael Andersen.
Die Implementierung eines Anlagenmanagementsystem für ein landesweites Straßennetz ist kein leichtes Unterfangen, doch Trond Michael Andersen sieht darin einen langfristigen Nutzen. Er weiß, dass der technologische Wandel in seiner Behörde auch einen kulturellen Wandel voraussetzt: „Wir müssen Best Practices anwenden und uns die Erfahrungen anderer anlagenintensiven Branchen zunutze machen, um unsere Behörde, unsere Tools und unsere Methoden weiterzuentwickeln. All diese Aspekte sind in unserer neuen Lösung integriert“, führt er aus. Technologie und Daten sind nach seinem Verständnis „Teil einer großen Formel“, die zum gewünschten Ergebnis führt. „Wir stecken mitten in diesem Prozess und haben noch viel zu tun, aber wir werden unser Ziel erreichen“, zeigt er sich überzeugt.