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Dr. Martin Heinig leitet seit Februar 2021 den Bereich New Ventures & Technologies bei SAP. Im Porträt spricht er über seinen Werdegang und wie sich Innovationen umsetzen lassen.

Am Beginn von Martin Heinigs Karriere steht ein prägendes Erlebnis mit einer Firma, die es heute nicht mehr gibt. Als junger Werkstudent beim Radiohersteller Blaupunkt GmbH konnte er hautnah miterleben, wie ein traditionsreiches Unternehmen, der Erfinder des Autoradios, durch technologische Disruption als Marktführer verdrängt und schließlich insolvent wurde.

„Nur deshalb“, sagt Heinig, „weil man die Zeichen der Zeit nicht erkannt hatte. Das mitanzusehen, war traurig und für die Belegschaft sehr schlimm. Man fragte sich: Wie konnte das gerade ,unserer‘ Firma passieren? Das hat auch mich noch lange beschäftigt: Hätte man diesen Niedergang aufhalten können und wenn ja, wie und wann hätten welche Weichen gestellt werden müssen?“

Heute – anderthalb Jahrzehnte später – leitet Heinig bei SAP den Fachbereich New Ventures & Technologies (NVT), der sich mit genau diesen Fragen beschäftigt, die für viele Unternehmen auf der ganzen Welt aktueller denn je ist: Wie gelingt es einer erfolgreichen Firma, innovativ zu bleiben und mit den eigenen Technologien und Geschäftsmodellen vorausschauend umzugehen?

IT-Karriere: Der Weg zu SAP

„Es wäre sicher übertrieben zu sagen, dass diese Erfahrung mit Blaupunkt meine berufliche Richtung vorgegeben hat“, sagt Martin. „Aber die Firma hatte eine gewisse Bedeutung für meine Familie und mein Leben.“ Bei Blaupunkt sind sich Heinigs Eltern zum ersten Mal begegnet, nachdem seine Mutter als junge Frau aus der Türkei nach Deutschland gezogen war. Martin wuchs in einem Dorf nahe Hildesheim auf, doch die Sommer verbrachte er regelmäßig in der Türkei.

„Die Familie meiner Mutter stammt aus Ankara, deshalb bin ich zweisprachig aufgewachsen und das habe ich auch immer als großen Vorteil empfunden“, sagt Heinig, der als erster in seiner Familie promoviert hat. „Meinen Eltern war Bildung wichtig, aber sie haben zum Beispiel nie kontrolliert, ob ich meine Hausaufgaben mache. Dafür hatten sie gar keine Zeit. Es stand nur immer im Raum: Wenn du etwas erreichen willst, musst du dich dafür ins Zeug legen.“

Das bedeutete von Anfang an ein hohes Maß an Selbstverantwortung, aber auch die Freiheit, selbst zu entscheiden, wohin es im Leben gehen sollte. „Mit einem Schneider CPC und danach dem Amiga 500 hat alles angefangen und später habe ich dann als Studienfach Diplom-Wirtschaftsinformatik an der Universität Göttingen gewählt, weil IT mich am meisten interessiert hat und mir auch am meisten Spaß zu machen versprach.“

Ein Auslandssemester führte Heinig nach Paris, so dass er neben Deutsch, Türkisch und Englisch auch ganz gut Französisch spricht. Nach dem Abschluss war er zunächst zwei Jahre als Softwareentwickler tätig, ehe er eine Dissertation über den Einsatz von Virtual und Augmented Reality in der Produktion an der TU Hamburg begann. Gegen Ende dieser vierjährigen Promotionsphase heuerte Martin beim neu gegründeten SAP Innovation Center Potsdam (ICP) an und zog nach Berlin.

Er erinnert sich mit einem Lachen: „Kollegen, Kommilitonen, praktisch alle, die ich kannte, haben mich gefragt, ob ich mir das wirklich gut überlegt habe, ob ich es wirklich für einen sinnvollen Karriereschritt halte, zu SAP zu gehen.“

Landauf, landab galt SAP zu diesem Zeitpunkt nicht gerade als innovative Firma, sondern kämpfte mit einem leicht verstaubten Image. „Aber ich war mir sicher“, sagt Heinig. „Am ICP herrschte eine regelrechte Aufbruchsstimmung; alle waren voller Ideen und Schaffensdrang.“

Vom SAP Innovation Center Network zu New Ventures & Technologies

Geleitet wurde dieses erste von heute neun Innovationszentren weltweit von Dr. Jürgen Müller, der heute im Vorstand von SAP den Bereich Technologie und Innovation verantwortet. Über die nächsten Jahre entwickelte sich von Potsdam ausgehend das SAP Innovation Center Network (ICN), das als eine Art technologisches Trendradar und Ideenschmiede für SAP fungiert und heute Teil von Martins Bereich New Ventures & Technologies ist.

„Damals haben wir gern die Metapher von SAP als einen Tanker benutzt – und dem ICN als Speedboat“, sagt Heinig. „Wir wollten agil und wendig sein, neue Technologien und Ideen ausprobieren, aber ohne Mühe auch wieder fallenlassen, wenn sich abzeichnete, dass sie nirgendwohin führen würden.“

Als eine der wichtigsten Lektionen aus dieser Zeit bezeichnet Heinig die Erkenntnis, dass Innovationsschmieden sehr gut an Produktabteilungen angebunden werden und stetigen Austausch mit den Lines of Business (LoBs) pflegen müssen.

„Das ist auch heute bei New Ventures & Technologies ein Eckpunkt unserer Arbeit“, erklärt er. „Wie erreicht man eine frühzeitige Zusammenarbeit mit den LoBs, so dass diese die neuen Technologien, Lösungen und Produkte aufnehmen können?“

Nachdem er bereits seit August 2018 SAP Labs Berlin leitet, wurde Heinig im Februar 2021 Head of New Ventures & Technologies. Seine Erfahrung als langjähriger COO von Jürgen Müller kam ihm hier zugute: „Die Steuerung selbst zu übernehmen, die Agenda selbst zu setzen, war zwar neu für mich, aber in unterstützender Funktion kannte ich all diese Themen bereits.“

Neben dem ICN gehören auch eine Reihe anderer SAP-Abteilungen zu NVT.

Grafik zeigt Innovations-Agenda bei SAP.
Die Innovations-Agenda bei SAP.

„Alle haben irgendwie mit Innovation und neuen Technologien zu tun“, sagt Heinig, „aber der Fokus und die Partner innerhalb des SAP-Ökosystems sind jeweils andere. Wir sind keine Linienorganisation, sondern es gibt sehr unterschiedliche Funktionalitäten bei uns, die ich als neuer Head of NVT im ersten Schritt inhaltlich genau kennenlernen musste, bevor ich mein Leadership Team aufstellen konnte und wir gemeinsam einen strategischen Rahmen setzen konnten, mit dem sich jeder identifizieren kann und sich eingeordnet fühlt.“

Eine Vision von Innovation

Für diesen Blick in die Zukunft wurden alle Bereiche innerhalb von NVT miteinbezogen und nach ihrer Sicht befragt. „Diese inkludierende Vorgehensweise hat sich für den Erfolg der Agenda als sehr wichtig erwiesen“, sagt Heinig. „Es bringt nichts, den Mitarbeitern zu sagen: seid mal bitte innovativ. Die Ideen sollen sich möglichst reibungslos in das Portfolio und die Strategie von SAP einfügen, wie sich beide in Zukunft entwickeln werden.“

Stattdessen befasste sich das Team mit der für SAP passenden Vision von Innovation. „Wie kann unsere Zukunft aussehen und wo wollen wir hin?“, fasst Heinig die wichtigsten Fragen zusammen. „Und von dort aus zurückdenken: Welche Schritte werden uns dorthin bringen, welche Fragestellungen müssen wir lösen und was muss passieren, damit wir dazu in der Lage sind?“

Grafik zeigt die SAP-Strategie
SAP-Strategie und Produkt-Roadmap

In drei Kernbereichen werden große Veränderungen antizipiert im Einklang mit der aktuellen SAP-Strategie und dem Produktportfolio.

Heinig erklärt: „Zum einen sehen wir die nächste Stufe der ERP-Systeme als eine Art Plattform, die es ermöglicht, Geschäftsprozesse und einzelne Funktionalitäten nach Bedarf zusammenzustellen. Diese Composability-Architektur ist deshalb ein Schwerpunkt unserer derzeitigen Arbeit, mit der wir Kunden zukünftig in die Lage versetzen wollen, Subprozesse als Einzelbausteine zu verwenden.“

Die zweite Entwicklung betrifft den Umgang mit Daten: „Anstatt wie heute noch üblich, sich etwa in einem Dashboard Daten anzeigen und auswerten zu lassen, die man vorher selbst festgelegt hat, wird es in Zukunft möglich sein, das System in diese Auswahl miteinzubinden.“ Das Zauberwort lautet Kontextualisierung: „Systeme werden sich dahin weiterentwickeln, dass sie erkennen, in welchem Kontext ich mich als User bewege und mir aus eigenem Antrieb Informationen liefern können, ohne dass ich explizit danach fragen muss.“

Außerdem wird sich der Bereich Finance und Accounting mit seinen Standards und Kennzahlen zur Steuerung von Unternehmen verändern: „Sustainability-Aspekte müssen aus unserer Sicht zunehmend in das Berichtswesen einfließen“, sagt Heinig. „Dazu muss es ein eigenes Accounting geben und Sustainability-Kennzahlen müssen ins SAP-Kernsystem integriert werden.“

Eine Kultur des Vertrauens und der Transparenz

Mit derzeit knapp 300 Mitarbeitern in Vollzeit und einer großen Menge Studenten verteilt sich NVT über zehn Niederlassungen weltweit. Martins Ziel bei der Zusammenarbeit ist es, eine Kultur der Selbstverantwortung zu etablieren. Anstatt dass Themen einfach vorgegeben werden, sollen die zuständigen Mitarbeiter ermächtigt werden, diese umzusetzen.

„Das allerwichtigste ist ein Vertrauensverhältnis in beide Richtungen“, sagt er. „Ich rede in Teammeetings offen über Budgetfragen und gebe Auskunft über meine eigene Arbeit. Andere Abteilungsleiter und Abteilungsleiterinnen innerhalb von NVT halten es ähnlich.“ Auch unter den Teams wird Wissenstransfer großgeschrieben: „Jeder muss verstehen, dass wir alle nur gemeinsam erfolgreich sein können und untereinander eng zusammenarbeiten.“

Diese Kultur der Transparenz ist tief verwurzelt im SAP Innovation Center Network, doch es sind auch die Zeichen der Zeit, erklärt Heinig: „Wir leben im Zeitalter der Plattformökonomie, das uns diese Transparenz und starke Vernetzung untereinander als Voraussetzung für kollaboratives Arbeiten einfach abverlangt.“

Und das ist auch gut so, betont er: „Letztlich werden immer die Ideen der Mitarbeiter ausschlaggebend sein, wenn es darum geht, eine Firma fit für die Zukunft zu erhalten.“

Beim Management sieht er die Verantwortung darin, Strukturen zu schaffen, die dieser Kreativität und diesen Ideen Raum geben. „Das fängt damit an, dass ich als Manager den Mitarbeitern das Gefühl vermittle: Ich darf hier Einfälle äußern, ich darf hier meine Ideen in den Raum werfen. Diese Offenheit zu ermutigen, ist vielleicht meine wichtigste Aufgabe als Head of NVT – und das macht mir an der Rolle auch sehr viel Spaß.“