Ernterisiken abschätzen und absichern: Das ist das Ziel einer digitalen Plattform, für die der Pflanzenschutz- und Saatgutkonzern Syngenta gerade mit dem SAP Quality Award 2020 in Gold in der Kategorie Innovation ausgezeichnet wurde. „AgriClime“ aggregiert digitale Wetterdaten aus den letzten Jahrzehnten und entwickelt daraus Wettergarantien. Fällige Rückzahlungen übernehmen Risikoträger.
Zur Aussaat nicht zu viel Regen, wenn der Samen sprießt kein Frost, in der Wachstumsphase viel Feuchtigkeit, während der Ernte möglichst kein Regen: Das sind die Bedingungen, unter denen sich Pflanzen am besten entwickeln. Doch sind Landwirte durch den Klimawandel weltweit zunehmend wirtschaftlichen Risiken ausgesetzt. Lange Trockenheit mit Hitzerekorden, Starkregen und Unwetter dezimieren immer wieder die Erntemengen. Dass die Wirtschaft stark vom Wetter abhängig ist, ist für Peter Steiner nichts Neues. Der heutige Manager für Global Agronomic Risk Mitigation bei Syngenta betrieb schon vor seinem Einstieg beim Schweizer Saatgut- und Pflanzenschutzkonzern eine Wetterderivate-Plattform. Rückversicherer, Banken, Versicherungen und Fonds übernahmen damals das Risiko etwa für die Mode-, Event- oder Landwirtschaftsbranche, die besonders wettersensibel sind. Die Idee hat Steiner nun in einen neuen Service von Syngenta eingebaut und „AgriClime“ genannt. Das Ziel der neuen Plattform ist es, Landwirte vor wirtschaftlichen Folgen durch Dürre, Regen, Hitze und Frost zu schützen. „Über 3.000 Landwirte aus 14 Ländern haben sich bereits auf der Plattform registriert“, erläutert Steiner, der für seinen Ansatz kürzlich von der SAP Schweiz den SAP Quality Award 2020 in Gold in der Kategorie Innovation verliehen bekam.
Die Voraussetzung: Historische Wetterdaten aus mindestens 20 Jahren
Für den neuen Service nutzt Steiner historische Wetterdaten, auf deren Basis er so genannte Wettergarantien berechnet. Mehr als zwanzig Jahre reichen die Informationen darüber zurück, wie hoch Temperatur und Luftfeuchtigkeit, wie stark Schneefall oder Regen waren, wie intensiv die Sonne schien und der Wind wehte und aus welcher Richtung er kam. Um gezielt lokale Wetterbedingungen kalkulieren zu können, ist etwa Russland in über eine Million kleine Kästchen aufgeteilt. Diese „Wetterblocks“ sind in Wirklichkeit fünf mal fünf Kilometer groß. Der Vorteil: Auf Basis dieser präzisen, lokalen Daten, die über einen Wetterdatenprovider weltweit zur Verfügung stehen, lassen sich spezifisches Zeitfenster etwa für die jeweilige Entwicklungsphase einer Pflanze herauszusuchen und in die Berechnung der Garantien einbeziehen. Nur so kann Syngenta einem Landwirt für jedes Areal die passende Saat und den passenden Pflanzenschutz vorschlagen und diese Produkte mit einer Erntegarantie verknüpfen.
AgriClime Plattform: Ein Rechenbeispiel aus den USA
Die historischen Wetterdaten bilden die Basis für einen Preisalgorithmus, der für jeden Wetterblock in einzelnen Ländern, die Saat und den Pflanzenschutz sowie die betreffende Wachstumsphase der Pflanze individuell ermittelt wird. Je nach Produktlinie zahlt ein Landwirt in den USA beispielsweise zwischen 30 und 60 US-Dollar pro Acer (entspricht einer Fläche von 0,4 Hektar) für Pflanzenschutz und Saatgut. Je nachdem, ob (weniger wirkungsvolle) Generika oder neuere Produkte eingesetzt werden, fällt oder steigt die Summe der potenziellen Auszahlungen. Über wirkungsvolle Fungi- und Herbizide etwa ist es möglich, in einer sehr feuchten Wachstumsphase Pilze und Unkraut zurückzuhalten. „In einem schlechten Jahr bekommt ein Landwirt durch AgriClime zwischen 30 und 70 Prozent der Investitionen zurückerstattet“, erläutert Steiner.
Der Ablauf ist folgender:
1. Zu Beginn der Saison benennt der Landwirt die Felder, die er gegen Extremwetter schützen will.
2. Auf Basis der historischen Wetterdaten ermittelt AgriClime eine Bandbreite von Niederschlägen, innerhalb der eine Rückzahlung möglich ist.
3. Aufgrund der aktuellen Niederschläge berechnet die Plattform, ob und wie hoch die Rückzahlung ist und die Auszahlung wird angewiesen. Je weniger Regen fällt, umso höher fällt sie aus.
Die Berechnungsmodelle sind individuell. Steiner vergleicht das Konzept mit dem Verkauf eines Cabrios, für das der Kunde einen Teil seines Geldes zurückbekäme, sollte das Wetter schlecht werden.
SAP Services: Maßgeschneiderte Lösung nach Syngenta-Anforderungen
Begonnen hatte Steiner sein Projekt bereits 2015. Garantieparameter und Auszahlungen für die Landwirte berechnete er zunächst jedoch manuell. Das änderte sich mit dem Einstieg von SAP Mitte 2018. „SAP war das einzige Unternehmen, das in der Lage war, eine maßgeschneiderte Lösung nach unseren Anforderungen zu entwickeln“, sagt Syngenta-Experte Steiner. „Die Summe der fälligen Auszahlungen berechnet die Plattform nun automatisch“, sagt Daniel Huser, der als Chefentwickler und Projektleiter die Weiterentwicklung von AgriClime von SAP-Services-Seite verantwortet. Seit Oktober 2018 ist die Plattform bereits online. Seitdem zieht sich das System die Wetterdaten selbständig, berechnet die Rückzahlungen und leitet sie an die entsprechenden Risikoträger weiter. „Die besondere Herausforderung lag in der komplexen Integration und darin, letztlich den Service für mehr als 20 Länder verfügbar zu machen“, meint Huser. Denn: „Will eine Landesgesellschaft von Syngenta eine Kampagne machen, brauchen wir nur noch die Parameter anzupassen, nach denen die Auszahlungen berechnet werden – und die Berechnung übernimmt AgriClime.“ Es gibt einen Satz an Standard-Logiken, nach denen Preise berechnet und die von jeder Landesgesellschaft genutzt werden können. Darüber hinaus sind individuelle Logiken möglich, die beispielsweise die ID-Nummer US-amerikanischer Farmer abfragen oder festlegen, welche Voraussetzungen für eine Teilnahme an AgriClime jeweils erfüllt sein müssen. Nächster Schritt in der Entwicklung: Die Rückzahlung wird vor allem aufgrund der unterschiedlichen Zahlungsmethoden und Reglementierungen in den einzelnen Ländern derzeit „nur“ berechnet. Ziel ist es, auch diesen Schritt zu automatisieren.
AgriClime: Knapp drei Millionen Hektar abgesichert
Von AgriClime verspricht sich Steiner einen wichtigen Anreiz für Kunden gegenüber Wettbewerbern. Entsprechende Auszahlungen gab es bislang bereits in Australien, Argentinien, Südafrika, USA, Spanien, Ungarn, Bulgarien, der Ukraine und Russland. „Unsere Kunden sind dort meist große Landwirtschaftsunternehmen oder so genannte Agroholdings, die mehr als 500.000 Hektar Land bewirtschaften“, so Steiner, dessen Plattform im laufenden Geschäftsjahr knapp drei Millionen Hektar abgesichert, einen Umsatz von 118 Millionen US-Dollar in zehn Ländern gemacht und vier Millionen Euro an betroffene Landwirte ausgezahlt hat. Wichtiger Nebeneffekt: „Wir kommen weg vom reinen Verkauf von Saatgut und Pflanzenschutzmitteln hin zu Services, die einen konkreten Mehrwert für die Landwirte bringen.“
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