Umweltexperten sind sich einig, dass sich Klimaziele nur durch Digitalisierung, Datentransparenz und konzertiertes Handeln erreichen lassen.
Unter den Automobilherstellern hat der Wettlauf um Klimaneutralität an Fahrt aufgenommen. Anfang Mai verkündete der Volkswagen Konzern (VW) ehrgeizigere CO2-Emissionsziele und überraschte damit auch die Konkurrenz in Europa, die sich nun gezwungen sieht, nachzuziehen.
Noch befindet sich der Wettlauf um klimaneutrale Fahrzeuge jedoch in der ersten Runde, und bis ins Ziel wird es ein langer und beschwerlicher Weg werden. Die Automobilindustrie verursacht über neun Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen und damit gleich viel wie die gesamte Europäische Union. Damit sie ihre individuellen Nachhaltigkeitsziele erreichen können, sind die Unternehmen auf den Austausch zuverlässiger und überprüfbarer Daten angewiesen.
Zuverlässige Daten als Voraussetzung für die Dekarbonisierung
Um klimaneutral zu werden, müssen Unternehmen die CO2-Bilanz der einzelnen Produkte in ihrer Lieferkette steuern – und benötigen deshalb Einblick in die Emissionen ihrer vorgelagerten Lieferanten, die sogenannten Emissionen nach Scope 3. Das Problem besteht darin, dass nur 21 Prozent der Führungskräfte mit der Qualität ihrer ökologischen Daten zufrieden sind, wie eine weltweite Umfrage von SAP ergeben hat.
Doch schon bald sollen präzisere Daten zum CO2-Ausstoß zur Verfügung stehen. „Bislang haben Unternehmen zur Berechnung der Emissionen auf Produktebene Durchschnittswerte verwendet, da es weder präzise, detaillierte Emissionsdaten noch eine einheitliche Methodik für die Erhebung dieser Daten gab“, erläutert John Revess, Director Net Zero Transformation beim World Business Council for Sustainable Development (WBCSD). „Um weiter an globalen Lieferketten teilhaben zu können, müssen Unternehmen die CO2-Bilanz ihrer Produkte auf der Grundlage von Messwerten genau berechnen“, prognostiziert John Revess. Die SAP und andere Unternehmen unterstützen als Mitglieder des WBCSD die Initiative Value Chain Carbon Transparency Pathfinder, die einen besseren Austausch von Emissionsdaten ermöglichen soll.
„Zur Umsetzung unserer Dekarbonisierungsziele sind wir auf zuverlässige Daten unserer Zulieferer zum ökologischen Fußabdruck der Komponenten angewiesen, die wir in unseren Fahrzeugen verbauen“, erklärte Ralf Pfitzner, der den Bereich Nachhaltigkeit bei Volkswagen leitet, beim SAP Sustainability Summit.
Bei der zweitägigen Online-Veranstaltung ging es darum, wie Unternehmen durch den Einsatz neuer Technologien ihre CO2-Emissionen verringern und begrenzte Ressourcen produktiv einsetzen können. „Wir haben beschlossen, gemeinsam mit der SAP ein digitales Tool und eine Datenbank zur Überwachung von CO2-Emissionen zu entwickeln. Das ist ein wirklich spannendes Projekt, da es offensichtlich eine große Nachfrage gibt“, führte Ralf Pfitzner aus.
Volkswagen und die SAP arbeiten auch bei anderen Initiativen zur Dekarbonisierung zusammen. 2020 schlossen sich die CEOs der beiden Unternehmen, Herbert Diess und Christian Klein, der CEO Alliance for Europe’s Recovery, Reform and Resilience an. Zehn europäische Vorstandsvorsitzende investieren im Rahmen dieser Allianz 100 Milliarden Euro in die Dekarbonisierung ihrer Unternehmen und Produkte und sprechen sich für weitgehende Klimaschutzmaßnahmen aus.
Umfangreiche Investitionen in die Elektrifizierung und Digitalisierung erforderlich
Volkswagen investiert die gewaltige Summe von 73 Milliarden Euro, um seine Maßnahmen zur Dekarbonisierung entscheidend voranzubringen. Für die Investitionen von Unternehmen in den Klimaschutz gibt es unterschiedliche Beweggründe, die von Branchenvorschriften (29 Prozent) über die Akzeptanz des Unternehmens (27 Prozent) bis hin zur Verbesserung des Image (26 Prozent) reichen. Laut einer Studie bildet die Unsicherheit, wie Nachhaltigkeit in den Geschäftsprozessen und IT-Systemen verankert werden kann, die größte Hürde bei der Umsetzung von Aktionsplänen.
Trotz der Herausforderungen ist Ralf Pfitzner zuversichtlich, dass Volkswagen seine Dekarbonisierungsziele umsetzen kann. Der Leiter des Bereichs Nachhaltigkeit bei Volkswagen geht davon aus, dass die Digitalisierung bei dieser Transformation eine wichtige Rolle spielen wird. „Es gibt neben der Nutzung von Ökostrom noch zahlreiche weitere Möglichkeiten, wie wir durch Digitalisierung unsere CO2-Bilanz verbessern können, beispielsweise indem wir Fertigungsdaten in der Cloud bereitstellen und Fertigungsroboter effizienter programmieren“, erläuterte er.
Ralf Pfitzner bekräftigte erneut das Ziel von Volkswagen, bis 2050 bilanziell klimaneutral zu werden – entlang des gesamten Lebenszyklus von VW-Fahrzeugen. Um dies zu erreichen, seien Zwischenziele erforderlich. „Die kommenden Jahrzehnte werden die Transformation des Transportwesens und der Automobilindustrie entscheidend beeinflussen. Bis 2030 möchten wir den CO2-Fußabdruck unseres Pkw-Portfolios über den gesamten Lebenszyklus hinweg um 30 Prozent gegenüber 2018 verringern“, erklärte er.
Klimaneutralität ist nicht im Alleingang möglich
Zwar haben sich bereits fast zwei Drittel der weltweiten Unternehmen das Ziel gesetzt, klimaneutral zu werden, doch erfordere die Erreichung dieses Ziels Systemdenken und gemeinsames Handeln in wesentlich größerem Maßstab als bisher, betont Hannah Routh, Partnerin von Deloitte UK. „Ob es gelingt, wird sich in der Umsetzung zeigen“, so ihre Prognose.
„Kein Unternehmen oder Land kann im Alleingang klimaneutral werden“, führt Hannah Routh aus. „Ob bei der Energieversorgung, im Transportwesen, in der Infrastruktur, in Behörden oder Kommunen – in allen Bereichen ist konzertiertes Handeln erforderlich.“
Eine der größten Herausforderungen sieht Hannah Routh darin, dass Unternehmen ihre Maßnahmen zum Klimaschutz in ihre Geschäftsstrategien und Entscheidungsprozesse einbinden müssen. Voraussetzung dafür sei Datentransparenz. Sie verweist darauf, dass ausreichend Daten zur Verfügung stehen, jedoch deren Qualität und Nutzbarkeit verbessert werden müssen.
Dieser Meinung ist auch Nicolas Peter, Finanzvorstand von BMW. „Digitalisierung trägt wesentlich zur Verbesserung der Datenqualität bei. Und aus der Sicht eines Prüfers ist die Qualität von Daten entscheidend, damit er seiner Verantwortung im Audit-Prozess gerecht werden kann“, erklärte er beim SAP Sustainability Summit. Er ließ keinen Zweifel daran, dass BMW auf neue Technologien setzt, um seine Klimaziele zu erreichen: „Der Trend zu mehr Nachhaltigkeit muss mit einer stärkeren Digitalisierung einhergehen. Es gibt keine Alternative“, resümierte er.
Digitalisierung als Triebfeder für die Dekarbonisierung
„CEOs benötigen Einblick in die Lieferketten ihres Unternehmens“, bekräftigt Thomas Saueressig, der den Vorstandsbereich SAP Product Engineering bei SAP verantwortet. „Die SAP bringt im Rahmen ihrer strategischen Initiative Climate 21 neue Lösungen auf den Markt, mit denen Kunden ihre Emissionen verringern und ihre CO2-Bilanz steuern können.“
Beim SAP Sustainability Summit wurden neue integrierte Lösungen vorgestellt, zu denen auch SAP Product Footprint Management zählt. Mit der Software lassen sich Treibhausgase in der Wertschöpfungskette als „Währung“ darstellen. „Mit unseren Lösungen für das Nachhaltigkeitsmanagement können Unternehmen ihre Produktionsstätten optimieren – nicht nur im Hinblick auf Umsatz und Betriebsergebnis, sondern auch hinsichtlich der erzeugten Treibhausgasemissionen“, erklärt Thomas Saueressig. Im Rahmen verschiedener Nachhaltigkeitsinitiativen entwickeln SAP und Accenture gemeinsam neue SAP-Lösungen zur Verbesserung der Nachhaltigkeit und Erweiterung von Kerntechnologien.
Ein rascher Wandel ist nötig
Neben der Verbesserung der Datenqualität hängt die erfolgreiche Umstellung auf klimaneutrales Wirtschaften laut Hannah Routh von Deloitte vor allem von der Geschwindigkeit der Transformation ab. „Ich bin fest davon überzeugt, dass die Welt dieses Ziel erreichen kann, weiß aber nicht, ob wir es schnell genug schaffen. Erfolgreich werden die Unternehmen sein, die sich der Dringlichkeit des Problems bewusst sind und schnell handeln.“