Die Krise im stationären Handel verschärft sich: Eine Insolvenz jagt die nächste, die Konsumlaune vieler Verbraucher ist im Keller, der Fachkräftemangel steigt. Im Arbeitskreis (AK) Retail des Bitkom widmen sich Vorsitzender Stefan Binkowski (SAP Vice President Retail & Wholesale Advisory) und seine Kollegen deshalb unter anderem der Frage, wie Innenstädte wieder an Attraktivität gewinnen können. Innovative Technologien spielen dabei eine wichtige Rolle.
Während der Corona-Pandemie sah sich einer Bitkom-Umfrage zufolge knapp jedes dritte Handelsunternehmen von Insolvenz bedroht. Zwei Jahre später ist diese Befürchtung für viele Händler Realität geworden. Bekannte Marken wie Real, Hallhuber oder McTrek haben bereits die Segel gestrichen, zahlreiche andere kämpfen ums Überleben. Die Einkaufsmeilen vieler Innenstädte verwaisen. „Eine paradoxe Situation“, findet Nastassja Hofmann, die beim Bitkom das Thema Retail verantwortet. „Denn gerade mal 12 Prozent der Verbraucher könnten sich künftig ein Leben ohne innerstädtischen Einzelhandel vorstellen.“ Einfach so weiter machen wie bisher, ist aus Sicht der Verbraucher allerdings keine gute Idee: „71 Prozent der von uns Befragten glauben, dass sich der Einzelhandel neu erfinden muss“, so Hofmann. In erster Linie gelte es dazu Angebote und Services zu schaffen, die das Einkaufen sowohl praktischer als auch zu einem individuellen Erlebnis machen.
Omnichannel Retail lautet weiterhin das Gebot der Stunde
Was es dazu braucht, steht für Stefan Binkowski außer Frage: „Omnichannel ist und bleibt das Erfolgsrezept für den Handel. Die nahtlose Integration sämtlicher Touch Points schafft das Fundament für ganz neue Einkaufserlebnisse und Effizienzverbesserungen.“ Szenarien dafür gibt es zuhauf: Vom digitalen Produktpass, über interaktive Leitsysteme bis hin zum kassenlosen, vollautomatisierten Smart Store. Den ersten Schritt dorthin haben inzwischen viele Händler erfolgreich gemeistert: 85 Prozent der Einzelhändler sind laut Bitkom inzwischen auch online aktiv. „Jetzt geht es darum, beide Welten zu verzahnen und die Chancen der Digitalisierung voll auszuschöpfen“, sagt Binkowski.
Künstliche Intelligenz liefert dafür wichtige Hebel. So profitiert die Handelskette Kaufland beispielsweise von intelligenten Werkzeugen, mit denen sich Abverkäufe und Bedarfe auf Basis unterschiedlicher Einflussfaktoren genau prognostizieren lassen. Bei Promotion-Artikeln konnte Kaufland die Fehlerrate so auf unter 38 Prozent drücken – und so Abverkäufe wesentlich genauer steuern. Mithilfe generativer KI lassen sich die Prognosemodelle zudem systemgestützt hinterfragen. „Bedeutet: Man kann auf Knopfdruck erkennen, warum welche Abverkäufe für welche Standorte prognostiziert werden“, erläutert der AK-Vorstand. Damit stehe einer bedarfsorientierten Warenplanung auf Filialbasis nichts mehr im Wege.
Künstliche Intelligenz erschließt dem Handel neue Perspektiven
Auch AK-Vorstandskollege Eike Folkerts bestätigt, dass Künstliche Intelligenz den Handel revolutionieren wird. „Wichtig dabei ist jedoch zu prüfen, wo entsprechende Technologien den größten Mehrwert bieten“, rät der T-Systems-Branchenexperte. Er sieht – nicht zuletzt angesichts des anhaltenden Fachkräftemangels – vor allem im Kundenservice viel Potenzial. So könnten beispielsweise intelligente Avatare die Einkaufsberatung in der Filiale übernehmen, indem sie etwa den passenden Wein für das bevorstehende Essen mit Freunden empfehlen oder individuelle Fragen zu komplexen Produkten beantworten. „Jedem, der in einem Fachgeschäft zu Stoßzeiten schonmal Beratungsbedarf hatte, erschließt sich der Mehrwert derartiger Angebote sofort“, so Folkerts.
Ein weiterer wichtiger Hebel für bessere Einkaufserlebnisse: Prozessautomatisierung – und zwar im Idealfall über sämtliche Touchpoints hinweg. „Denn in Ladengeschäften läuft vieles nach wie vor hochgradig manuell“, sagt Folkerts. „Das kostet viel Zeit, die bei der Kundeninteraktion letztlich fehlt.“ Zudem stellen vollständig automatisierte End-to-End-Prozesse die Weichen für spürbare Effizienzsteigerungen und mehr Transparenz. Vor allem komplexe Prozesse wie das Kampagnenmanagement bieten dafür wichtige Ansatzpunkte.
Smart Retail erfordert Kooperationsbereitschaft
Apropos Transparenz: Wäre es nicht toll, wenn Kunden händlerunabhängig online recherchieren könnten, welches Geschäft in ihrer Region ein bestimmtes Produkt gerade auf Lager hat? Statt online zu bestellen und tage- oder gar wochenlang auf den Versand zu warten, könnten sie die Ware online reservieren und dann direkt in der Filiale abholen. „Rein technisch ist das bereits problemlos machbar“, verweist Retail-Expertin Nastassja Hofmann auf Erkenntnisse eines neuen Bitkom-Whitepapers, das innovative Technologielösungen für einen attraktiven und zukunftsorientierten Handel bündelt. Um derartige Services anzubieten, sei jedoch ein Umdenken erforderlich: Kooperation statt Konkurrenz lautet dabei die Devise.
Um sich neu zu erfinden, muss der Handel zudem über den eigenen Tellerrand hinausblicken. Smart Retail ist zwar ein wichtiger Hebel, um mehr Konsumenten in die Innenstädte zu locken. Um die Attraktivität der Fußgängerzonen nachhaltig zu verbessern, gilt es aus Sicht des Bitkom-Arbeitskreis Retail jedoch auch andere Stakeholder einzubinden: Kommunen müssen die Entwicklung bedarfsgerechter Mobilitätsservices und nachhaltiger Stadtentwicklungskonzepte vorantreiben, Gastronomie, Kultur und Wirtschaft die Shoppingmeilen durch attraktive Angebote gezielt aufwerten, die Politik gesetzliche Vorgaben an neuen Rahmenbedingungen ausrichten.
„Es gibt also einige Herausforderungen zu bewältigen“, resümiert Binkowski. Was die Zukunft des Einzelhandels angeht, ist er dennoch optimistisch: „Die fortschreitende Digitalisierung und innovative Technologien bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten, um das Kundenerlebnis zu verbessern und Prozesse effizienter zu gestalten.“
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