Bestseller-Autor Malcolm Gladwell sieht in der aktuellen Krise eine Zeit für Experimente. Ein Gespräch mit SAP CIO Max Wessel.
Die Corona-Pandemie erweist sich als ultimativer Stresstest für eine Vielzahl von Branchen. Von einem Tag auf den anderen sahen sich Unternehmen gefordert, auf eine Krise historischen Ausmaßes zu reagieren. Nie zuvor war es schwieriger, den Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten.
Viele Menschen sind der Corona-Beschränkungen im Alltag überdrüssig und möchten wissen, wann sie wieder zur Normalität zurückkehren können.
Eine Zeit für Experimente
„Es gibt zwei Endpunkte“, erklärt der Bestseller-Autor Malcolm Gladwell. Er ist zuversichtlich, dass es den Ärzten in den kommenden Monaten immer besser gelingen wird, die Corona-Pandemie in Schach zu halten. „Der erste Meilenstein wird meiner Meinung nach eine deutlich geringere Sterblichkeitsrate in den Krankenhäusern sein. Das werden wir kurz- bis mittelfristig erreichen. Längerfristig gesehen wird es in einem bis eineinhalb Jahren einen Impfstoff geben, der uns einen Großteil unserer Angst nehmen wird.“
Gladwell hat als Journalist in den 1990er-Jahren für die Washington Post über die HIV-Epidemie berichtet und zeigt sich verhalten optimistisch, was die gegenwärtige Pandemie betrifft. Sein erstes Buch „Tipping Point: Wie kleine Dinge Großes bewirken können“ (im Jahr 2000 veröffentlicht), für das er sich ausführlich mit Virusepidemien befasst hatte, brachte ihm eine große Leserschaft ein. Es gelingt ihm darin insbesondere, bislang nicht ergründete und mitunter widersprüchlich erscheinende Verbindungen zwischen verschiedenen Aspekten unseres Alltags aufzudecken. Bis heute hat er sechs Bücher veröffentlicht, darunter auch „Überflieger“, das 2008 auf Anhieb auf Platz eins der Bestseller-Liste der New York Times landete. Gladwell hält regelmäßig Vorträge, veröffentlicht den Podcast „Revisionist History“ und wurde zum Member des Order of Canada ernannt.
Auch als Gast der Video-Reihe SAPPHIRE NOW Unplugged zum Thema Thought Leadership stellte Gladwell mutige, mitunter provokante Thesen dazu auf, wie Unternehmen mit den Folgewirkungen der Corona-Krise umgehen und neue Möglichkeiten für künftige Innovationen erschließen können. Im Gespräch mit Max Wessel, Chief Innovation Officer der SAP, führte er verschiedene Beispiele an, wie die Einschränkungen und Anforderungen der andauernden Krise neue Denkweisen im Zusammenhang mit Produkten und Dienstleistungen beflügeln können. Das vollständige Interview steht hier zum Abruf bereit.
„Unsere Aufgabe ist es, zu experimentieren“, erklärte Gladwell in dem Gespräch. Er ermutigte SAP-Kunden und Führungskräfte, in ihren Unternehmen in dieser „verrückten Zeit“ neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Neue Wege beschreiten: Drei Branchen im Wandel
Die Corona-Krise hat das Augenmerk auf die digitale Transformation gelenkt. Unternehmen haben erkannt, wie wichtig die Nutzung von Echtzeitdaten in der Cloud und stabile Lieferketten sind. Durch die vermehrte Remote-Interaktion im Zuge des Social Distancing hat sich der geschäftliche Nutzen eines optimalen Kundenerlebnisses weiter vergrößert. Branchen, die davon leben, dass Menschen an einem Ort zusammenkommen, müssen neue Angebote entwickeln. Jetzt ist ein günstiger Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen, wie sich mit innovativen Produkten und Dienstleistungen völlig neue Erlebnisse schaffen lassen.
Sport: Wo sind die ganzen Fans?
Als eingefleischter Basketball-Fan befasste sich Gladwell damit, welche Innovationsmöglichkeiten Sportveranstaltungen bieten. Die Frage, ob die NBA Ende des Sommers ihre Playoffs ausrichten kann, beantwortete er mit einem klaren „Ja“. Durch eine Kombination von Tests und Quarantäne-Maßnahmen können sicherlich die nötigen Voraussetzungen geschaffen werden – jedoch ohne die Faszination des gemeinsamen Erlebnisses mit anderen Fans. „Was also wollen Sie verkaufen?“, fragte er in gewohnter Manier sehr direkt. „Sie verkaufen nun etwas anderes. Sie verkaufen ein Gefühl der Intimität.“
Es biete sich nun die Möglichkeit, das Produkt so umzugestalten, dass weniger der Reiz des gemeinsamen Erlebnisses, sondern vielmehr das Gefühl der Intimität im Mittelpunkt stehe, so Gladwell. Durch den Einsatz von Technologien wie Kameras, Sensoren und Robotern können auch Zuschauer, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen zu Hause vor dem Fernseher sitzen, das Spielgeschehen hautnah mitverfolgen. Erstmals können Sportfans ein Spiel so erleben, als wären sie gemeinsam mit den Spielern und Trainern auf dem Platz. Wie Gladwell es formulierte: „Sie können frei experimentieren und neu definieren, worin das Zuschauererlebnis bei einem Basketball-Spiel besteht.“
Umwelt: Werden Stadtbewohner künftig saubere Luft einfordern?
„Viele Dinge sind nicht offensichtlich“, merkte Gladwell an, als er verschiedene Beispiele dafür anführte, wie sich in infolge des verminderten Verkehrsaufkommens in den vergangenen Wochen die Luftqualität in Städten verbessert hat. Er sieht darin eine interessante Entwicklung, da in aktuellen Studien nachgewiesen wurde, dass sich die Luftqualität nicht nur auf unsere körperliche Gesundheit, sondern auch auf unsere kognitive Gesundheit und unsere Lernfähigkeit auswirkt. Und weil sich die Menschen offenbar wohler fühlen. Er begreift dies als Chance, bei der Stadtentwicklung in Zukunft auch Aspekte wie Elektromobilität, Grünflächen und Fahrradwege stärker zu berücksichtigen.
„Wird die Öffentlichkeit gesellschaftliche Veränderungen und Innovationen einfordern, die für saubere Luft sorgen?“, überlegte er. „Noch vor drei Wochen hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die aktuelle Corona-Pandemie in Städten weltweit den Ruf nach besserer Luftqualität laut werden lässt.“
Bildung: Wie können wir die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems verbessern?
Eine der wohl größten Überraschungen der Corona-Krise war die Umstellung auf Homeschooling für Lernende aller Altersgruppen. Auch wenn es noch zu wenige Inhalte gibt, die technologischen Plattformen Schwächen aufweisen und die Nerven mitunter blank liegen, war diese Zeit des Online-Unterrichts für die breite Masse dennoch ein bewundernswertes Experiment, aus dem man lernen kann und das weitere Verbesserungen ermöglicht.
„Wir können in dieser Zeit feststellen, was beim Online-Unterricht funktioniert und was nicht“, resümierte Gladwell, der selbst aus einem akademischen Elternhaus stammt (sein Forschungsinteresse und seine Begeisterung fürs Schreiben hat er seinem Vater, einem Mathematikprofessor, und seiner Mutter, einer Psychotherapeutin, zu verdanken). Was wir seiner Meinung nach nun brauchen, ist eine wissenschaftliche Untersuchung der Beziehung zwischen Bildungseinrichtungen und Lernenden. Insbesondere gilt es, auch im digitalen Bereich für Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. „Uns bietet sich hier die einmalige Chance, das Verhältnis zwischen Bildungseinrichtungen und Lernenden in unterschiedlichsten Zusammenhängen neu zu gestalten.“
SAPPHIRE NOW Unplugged
Eine Aufzeichnung des Gesprächs finden Sie unter A Time for Experimentation – Max Wessel in conversation with Malcolm Gladwell, best-selling author and public speaker.
Weitere Anregungen, Ideen und Analysen finden Sie in der Video-Reihe SAPPHIRE NOW Unplugged zum Thema Thought Leadership.