Neben Berlin wird Dresden nach der Wende 1989 zum zweiten Standbein der SAP im Osten Deutschlands. SAP modernisiert die Firmen und bietet den Menschen berufliche Sicherheit. Was keineswegs selbstverständlich ist.
Nach dem Fall der Mauer im November 1989 blicken viele westdeutsche Unternehmen – darunter auch SAP – auf Berlin. Um 1990 schnell in Ostdeutschland Fuß zu fassen, erscheint dem Vorstand in Walldorf aber auch ein Joint Venture eine erfolgversprechende Option, und zwar mit dem ROBOTRON-Projekt Dresden (RPD) als führendem Software-Hause der DDR auf der einen und dem wichtigen Partner Siemens AG Daten- und Informationstechnik auf der anderen Seite. Aber der Standort Dresden ist kein Startpunkt für schnelles Gelegenheitsgeschäft, sondern wird zur sicheren SAP-Basis für die nächsten 30 Jahre von der Wiedervereinigung bis heute.
Die Vorgeschichte der SAP in Dresden
Die Idee eines Dresdener Software-Hauses gab es bereits vor der Wende. „Die Software-Firma RPD wurde 1984 gegründet, weil man auch in der DDR die Bedeutung von Software für eine erfolgreiche Unternehmensführung in zunehmendem Maße erkannte. Auch gemeinsame IT-Projekte zwischen Ost- und West wurden dadurch möglich“, erzählt Dr. Hans-Jürgen Lodahl, damals Geschäftsführer des RPD und später einer der drei Geschäftsführer der Firmenneugründung. Von 1985 an entwickelte das RPD Software im Auftrag westdeutscher Firmen wie Siemens. Lodahl: „Es gab die sogenannte Import-Export-Koordinierung: Wir kauften Produkte von einem Partner im Westen und bekamen im Gegenzug von diesem Partner Aufträge zur Softwareentwicklung, so dass wir die Ausrüstung nicht mit Valuta zahlen mussten, sondern eine Leistungsverrechnung stattfinden konnte.“
Dr. Wolfgang Kemna, der 1990 von SAP zum Geschäftsführer des Joint Ventures ernannt werden würde, erinnert sich aus seiner Münchner Siemens-Zeit an Delegationen aus der DDR: „Wir waren im Kalten Krieg. Es ging darum, welche Rechner man trotz US-Embargo in die DDR verkaufen konnte.“
Bei SAP ahnte man noch nicht, in welchem Umfang es ab 1989 politische Veränderungen im Osten geben würde, aber man kam bereits vor der Wende in Berührung mit dieser Art der Kooperation. „Im September 1989 gab es ein Treffen bei Siemens in München, an dem auf SAP-Seite Gerhard Oswald teilnahm. Hasso Plattner war nach Dresden gereist, um sich ein Bild von den Fachkräften bei RPD zu machen“, erinnert sich Lodahl.
Dann überschlugen sich die politischen Ereignisse, und es waren nur noch Monate bis zur deutschen Einheit.
Pläne für den Aufbau Ost werden konkret
Das RPD war damals ein DDR-Softwarehaus mit rund 1.200 Beschäftigten und Teil des Robotron-Kombinates mit etwa 68.000 Mitarbeitern. „Mit der Wende war uns klar, dass wir das Kombinat als Ganzes nicht halten konnten. Nun ging es darum, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu retten“, betont Lodahl.
Joachim Singer, damals Direktor für Personal beim RPD (als Seiteneinsteiger in der Wendezeit ins Personal gewechselt), beschreibt ein weiteres Problem: „In der DDR hatte man versucht, sich möglichst nah an die Betriebssysteme, Datenbanken und mathematischen Programme des Westens anzupassen und hatte dafür die westlichen Programme entsprechend nachempfunden. Deshalb hatte man bei RPD nach der Wende Angst vor Lizenzansprüchen und es war klar, dass man in der bisherigen Form nicht weiterbestehen konnte.“
Mitte März 1990 nahm SAP an der Leipziger Frühjahrsmesse teil und präsentierte sich in einer Ausweich-Messehalle, da die eigentlichen Messeplätze aufgrund des neuen „West-Ansturms“ bereits ausgebucht waren. Schon zur „Messehalbzeit“ wurde die geplante Gründung der Firma „Software- und Systemhaus Dresden“ (SRS) der drei beteiligten Unternehmen SAP AG, RPD und Siemens AG, Bereich Daten- und Informationstechnik, offiziell per Pressemitteilung verkündet. Wiederum ein paar Tage später auf der CeBIT 1990 in Hannover setzen SAP-Vorstand und RPD-Leitung die Gespräche fort und konkretisierten ihre Pläne.
Von Seiten der Politik gab es zu diesem frühen Zeitpunkt keine gesamtdeutschen Wirtschaftskonzepte, aber SAP setzte gewisse Voraussetzungen im Wirtschaftssystem der DDR einfach „als zukünftig gelöst“ voraus, wie es im SAP-internen Positionspapier zum Ostgeschäft heißt, das die Standard-Software R/2 als echte Chance einstufte: „Durch die Zergliederung der riesigen Kombinate in überschaubare, zielgerichtet arbeitende Unternehmen entsteht eine Vielzahl von Firmen, die vor der Aufgabe stehen, sich vollständig neu zu organisieren und zu strukturieren.“
Rasch wollte man mit Referenzkunden den Wert der Software – vor allem bei der Umstellung auf die neuen gesetzlichen Bestimmungen – im direkten Einsatz demonstrieren. Der volkseigene Betrieb Bandstahlkombinat „Hermann Matern“ in Eisenhüttenstadt wurde der erste Pilotkunde. Auf den Siemens-Rechnern C40 mit dem Betriebssystem BS2000 sollte zukünftig SAP R/2 laufen. Gleichzeitig wandelte die Treuhand 1990 das Kombinat in die EKO Stahl AG um, die heute zu ArcelorMittal gehört und als ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbH noch immer zum SAP-Kundenstamm zählt.
Neue Möglichkeiten mit SAP R/2
In Dresden erhielten die RPD-Mitarbeiter unterdessen die Nachricht von den Firmen-Plänen. „Meine damalige Auftraggeberin kam ins Büro und sagte‚ ,Sie können aufhören, mit dem, was Sie da tun, wir werden zukünftig an dieser Software arbeiten.‘ Und dabei winkte sie mit einer SAP-R/2-Broschüre“, erinnert sich Rainer Dittrich, der später bei SRS und schließlich bei SAP die Abteilung RP-Beratung (Personalwirtschaft/HR-Beratung) leitete.
Rund 300 RPD-Mitarbeiter sollten von SRS übernommen werden. Von den neuen SRS-Mitarbeitern waren wiederum 85 für SAP-Projekte eingeplant, die bis zur offiziellen Firmengründung durch den SAP-Aufbauleiter Herbert Kramer betreut wurden.
Nach anfänglichen Herausforderungen durch die Umstrukturierung, kamen die Abläufe bei SRS bald in ruhigeres Fahrwasser und man legte den Grundstein für den Aufbau einer eigenen neuen Firmenstruktur.
Haltestelle: SAP-Zentrale in Walldorf
Unmittelbar vor Ostern im April 1990 erhielt Joachim Singer ein Fernschreiben, dass am darauf folgenden Mittwochmorgen um 6 Uhr ein Bus auf dem Robotron-Parkplatz in Dresden bereitgestellt werden würde, der die Mitarbeiter zu Schulungen nach Walldorf bringen sollte. Da der Ostermontag gerade 1990 wieder zum Feiertag geworden war, bedeutete das noch nicht einmal zwei Arbeitstage Vorlauf. „Man musste die Mitarbeiter nicht nur informieren, sondern auch überzeugen. Im Osten kannte kaum einer SAP. Zu Siemens bestanden bereits Geschäftsbeziehungen und viele der Angestellten wollten eher zu Siemens. Außerdem ähnelte das Betriebssystem, mit dem die RPD-Mitarbeiter gearbeitet hatten, am ehesten dem von Siemens,“ so Singer. Man musste sich quasi über Ostern 1990 entscheiden, ob man für die nächsten drei Monate Schulungen in Walldorf absolvieren würde. Viele RPD-Kollegen waren bis dahin noch nicht geschäftlich im Westen gewesen. SRS erschien als eine Chance. Aufgrund der vielen Ungewissheiten der Zeit gehörte aber auch einiges an Mut dazu, sich für SRS zu entscheiden. „Wir sind in den Bus gestiegen und wussten alle noch nicht viel mehr, als dass wir nun nach Walldorf fahren würden. Man kam in eine völlig neue Welt“, so Dittrich.
Doch nicht nur die Unbekannte „Walldorf“ trug zur Unsicherheit bei. „Die politische Debatte war in vollem Gange und frühere Partei- und Stasizugehörigkeit war natürlich etwas, was wir in unseren Reihen beäugten und weshalb sich die neue Ordnung nicht für jeden von uns gleich richtig anfühlte,“ so Manfred Eilitz, der später den Dresdner Hosting-Bereich für SAP aufbaute.
Für die berufstätigen Mütter war es schwierig, diese spontane Abreise zu organisieren, wie sich Eva Rebitzer erinnert. Sie selbst war gerade erst Mitte Zwanzig und nach ihrer Ausbildung bei Robotron in den ersten Berufsjahren. „Diejenigen, die im ersten Bus nicht dabei waren, kamen dann mit den beiden nachfolgenden Bussen und so war ich eine von wenigen Frauen bei der ersten Ankunft. Man hatte uns außerdem gesagt, wir sollten gut gekleidet erscheinen, daher hatten die Männer vorrangig dunkle Anzüge an. Als wir in Walldorf ankamen, müssen die SAP-Kollegen nicht schlecht geschaut haben, was für eine Trauergesellschaft da ausstieg.“ Auch Rainer Dittrich erinnert sich gut daran, weil er später noch öfter darauf angesprochen wurde: „Ach, ihr wart die aus dem Bus.“ Er ergänzt: „Wir haben mit den Entwickler-Kollegen aus Walldorf, die in der Regel eher Jeans und T-Shirt trugen, noch lange herzlich darüber gelacht. Natürlich haben wir das mit den Anzügen dann auch schnell sein lassen.“
Die Ost-Ankömmlinge wurden in Themenbereiche eingeteilt und nach einer allgemeinen betriebswirtschaftlichen Schulung entsprechend in kleinen Gruppen durch die Entwickler der jeweiligen Bereiche geschult. Eva Rebitzer, die bis heute in der HR-Beratung bei SAP tätig ist, erzählt, dass sie von Mitgründer Klaus Tschira bei der ersten Begegnung und zu einer Zeit, als in Walldorf noch jeder jeden kannte, gefragt wurde: „‘Und wer sind Sie? Sie kenne ich noch gar nicht.‘ Als ich erklärte, dass ich zur Delegation aus Dresden gehöre, war er überrascht, dass es da nicht nur Männer in dunklen Anzügen gab.“
Die RPD-Mitarbeiter fuhren ab April 1990 jede Woche für die nächsten drei Monate zu Schulungen nach Walldorf. „Man war den Neuankömmlingen aus dem Osten durchweg sehr positiv gegenüber eingestellt. Sie hatten ein sehr gutes technisches Know-how. Nun mussten sie dazu lernen, was der aktuelle Stand der IT in der westlichen Welt war“, so Wolfgang Kemna.
Vertrauen in die Zukunft der SAP
Zu diesem Zeitpunkt hatten die Dresdner nur ein „Einstellungsversprechen“, setzen aber von Anfang an große Hoffnung in die SAP. Rainer Dittrich: „Das Vertrauen war sehr schnell sehr groß, weil die Kontakte zu den Walldorfer Kollegen sehr intensiv waren. In der Personalwirtschaft waren es etwa 100 Mitarbeiter und nun kamen zehn Neue aus dem Osten dazu. Die enge Zusammenarbeit hat uns ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Außerdem gab es gemeinsame Abende, Runde-Tisch-Gespräche, Sightseeing-Programme. Wir lernten sehr schnell, was es eigentlich heißt, SAP-Berater zu sein, und wir waren nicht auf uns allein gestellt.“
Während die Dresdner zu Beginn ihrer Ausbildungsphase von Mitgründer Hans-Werner Hector, damals zuständig für den Schulungsbetrieb bei SAP, begrüßt worden waren, wurden sie am Ende der zwölf Wochen im Juli 1990 im Rahmen einer großen Verabschiedungsrunde von Mitgründer und Vorstandschef Dietmar Hopp verabschiedet. Man würde nach Hause fahren und auf die Gründung der SRS warten müssen. „Dietmar Hopp wandte sich damals direkt an uns: Wir sollten die Hand heben, falls wir nicht vollstes Vertrauen in die geplante Firmengründung hätten, dann würde man eine andere Lösung über eine direkte SAP-Gründung finden. Das war ein deutliches Signal und damals hat keiner die Hand gehoben“, erzählt Dittrich.
Von Ost nach West und umgekehrt
Im Herbst 1990 begab sich Wolfgang Kemna auf die Reise gen Osten. „Es war die wilde Wendezeit. Ich fuhr eines Tages mit dem Auto nach Dresden und hatte eines der ersten Mobiltelefone dabei, das allerdings nur selten Empfang hatte. Für mich als gebürtiger Hesse war es eine große Entdeckungsreise. Ich habe mich dann bewusst nicht im Hotel einquartiert, sondern wohnte privat bei einer Familie, deren Sohn wiederum für eine Ausbildung in den Westen gegangen war. So konnte ich bei meinen Gastgebern all die Fragen loswerden, die sich für mich rund um das Leben in der DDR ergaben.“
Die Büros der SRS in Dresden befanden sich in den ehemaligen Robotron-Gebäuden an der Leningrader/Petersburger Straße, wo man drei Etagen des „Kopfbaues“ und einen Teil des ehemaligen Rechenzentrums bezog, die bald renoviert und neu ausgestattet wurden.
Siemens hatte etwa zeitgleich, im Oktober 1990, die vor dem Aus stehende Computerfirma Nixdorf übernommen. Joachim Singer: „Die Gründung der SRS-Gesellschaft hatte sich verzögert, da die Bildung der Siemens-Nixdorf Informationssysteme AG noch abgewartet werden musste und die Zustimmung der Treuhand zur Beteiligung der Robotron-Projekt GmbH noch ausstand.“
Doch am 15. Oktober 1990, weniger als zwei Wochen nach der deutschen Einheit, wurde die Unternehmensgründung der SRS in München notariell beglaubigt und zum 1. November 1990 nahm die SRS den Geschäftsbetrieb auf.
Lesen Sie hier im im zweiten Teil, wie die SRS zu einem der wichtigsten Arbeitgeber im Osten wurde.