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Das aktuelle Chaos in den globalen Lieferketten behindert die Produktion in der gesamten Konsumgüterindustrie, wie das Beispiel der Textilbranche zeigt. Ohne die Digitalisierung der Einkaufswege können Firmen ihren Verpflichtungen Kunden gegenüber kaum noch zuverlässig nachkommen.

Jeans kaputt? Wer nicht gerade auf Trash-Design (bei dem Löcher ein Stilelement sind) steht, sucht für gewöhnlich nach schnellem Ersatz für das zerrissene Beinkleid. In jedem kleineren Ort gibt es Jeans- oder andere Bekleidungsgeschäfte, in denen Denim-Ware ganze Regale füllt. Zumindest ist dies die Erwartung der Kundinnen und Kunden. Doch wer heute nach einem bestimmten Modell oder nach einer bevorzugten Farbe Ausschau hält, sucht womöglich vergebens. Die Auswahl in Textil-, Schuh- und Lederwarengeschäften ist derzeit begrenzt, weil ein Teil der Herbst- und Wintermode 2021 fehlte, wie der Handelsverband Textil schon Ende Oktober vergangenen Jahres bekannt gab.

Erste Sortimentslücken im Sportbereich bereits in der Vorweihnachtszeit

Besonders dramatisch stellt sich die Lage in der Sportbranche dar, die einerseits einen kräftigen Nachholeffekt nach den monatelangen, coronabedingten Schließungen verzeichnet. Zum anderen hat die Lust der Menschen an Freizeitaktivitäten außer Haus seit Beginn der Pandemie enorm zugenommen. Bestimmte Bereiche wie Outdoor-Sportarten erleben einen regelrechten Boom wie das Branchenmagazin TextilWirtschaft feststellt. Laut dem Magazin haben sich insbesondere am Markt für Outdoor-Schuhe bereits vor Weihnachten 2021 erste Sortimentslücken aufgetan – mit der Folge, dass Endkunden nun monatelang auf ihr Wunschmodell warten müssen.

Gesamte Konsumgüterindustrie ist betroffen

Die Entwicklung trifft keineswegs allein die Textilbranche. Sie lässt sich in Art und Umfang in allen Segmenten der Konsumgüterbranche beobachten. So können deutsche Autobauer wie Audi oder Daimler aufgrund eines Halbleitermangels am Markt teilweise Neuwagen nicht wie vom Endkunden bestellt ausliefern. Seit dem Herbst erscheinen auch Bücher in abgespeckter Form: Viele Verlage verzichten auf Spezialpapiere oder Sonderfarben, weil beides nur schwer erhältlich ist und lange Lieferzeiten drohen.

Gründe für das Lieferketten-Chaos nicht nur pandemie-bedingt

Überall dasselbe Bild: Händler erhalten über ihre Zulieferer die Ware nicht, die zum Weiterverkauf bestimmt ist oder Hersteller erhalten wichtige Vorprodukte nicht, die sie zur Fertigung eines Endproduktes benötigen. Geschuldet ist dies den aktuellen Verwerfungen in der globalen Lieferkette von Rohstoffen beziehungsweise Vorprodukten. Hier seien nur einige der Hauptstörfaktoren genannt:

  • Die pandemiebedingte Schließung von Fabriken in aller Welt führte zu Produktionsausfällen.
  • Auch die pandemiebedingte Schließung von Häfen vor allem in Asien – zum Beispiel eines Terminals in Chinas zweitgrößtem Hafen Ningbo im August 2021 – führt zu einem Rückstau an Waren und Materialien.
  • Zufallsereignisse, wie die Blockade des Suez Kanals aufgrund eines Unfalls des Container-Schiffes „Ever Given“, verschlimmern die Lage.
  • Politische Entscheidungen wie der Brexit verschärfen die Situation weiter: So importiert die deutsche Tierfuttermittelbranche einen hohen Anteil ihrer Rohstoffe aus England, was seit dem Austritt der Vereinigten Königreiches aus der EU mit mehr Aufwand und Kosten verbunden ist.
  • Schiffscontainer erreichen ihre Destinationen verspätet oder gar nicht und befinden sich deshalb zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Sie werden zur knappen Ware, die Verschiffungsdauer steigt, die Frachtpreise vervielfachen sich.
  • Langfristig steigen die Energiepreise im Transportbereich. Fuhrunternehmen bündeln in der Folge Transporte verstärkt.

Die Folgen der weltweiten Logistikprobleme für die Konsumgüterindustrie und die Textilindustrie im Speziellen sind gravierend. Zahlreiche Modeketten wie H&M oder Asos sowie Hersteller von Sportbekleidung wie Nike informierten bereits im Herbst vergangenen Jahres über ihre Lieferengpässe. Die Textilunternehmen rechnen erst ab der zweiten Jahreshälfte mit einer Besserung. Doch Tamara Braun, Chief Customer Officer IS&BN für die Region MEE bei SAP, warnt vor zu viel Optimismus: „Im Nachgang der Corona-Krise zeichnet sich bereits der nächste Engpass aufgrund der steigenden Bedeutung von Nachhaltigkeitsaspekten ab“, erklärt die SAP-Expertin. „Die Kosmetikindustrie beispielsweise überlegt bereits heute, woher sie biozertifiziertes Palmöl beziehen kann. Und Unternehmen aller Branchen prüfen ihre Lieferketten zunehmend genauer im Hinblick auf den CO2-Ausstoß, den sie verursachen.“

Ökobilanz von Rohstoffen spielt eine immer wichtigere Rolle

Getrieben wird das Thema Nachhaltigkeit sowohl durch die öffentliche Diskussion um den Klimawandel als auch durch konkrete gesetzliche Vorgaben wie das Pariser Klimaabkommen. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel von Davos sind Unternehmen selbst eine Reihe Selbstverpflichtungen eingegangen. Viele Firmen forcieren das Thema: So will Microsoft bis 2050 den gesamten Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernt haben, den der Software-Konzern seit 1975 emittiert hat.

Doch nicht allein der Klimaschutz entfaltet Rückwirkungen auf die weltweiten Lieferketten. Weitere Regularien wie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz sorgen dafür, dass Unternehmen etablierte Lieferantenbeziehungen überprüfen (müssen), um soziale Ungerechtigkeiten und Missstände wie zum Beispiel Kinderarbeit in ihren Lieferketten zu eliminieren. Auch Veränderungen im Konsumverhalten bleiben nicht ohne Folgen für die Lieferketten: Im Trend liegen etwa die Individualisierung und Personalisierung von Produkten, vom Sweatshirt bis zur Küchenfront.

Keine zuverlässige Auslieferung ohne vertrauenswürdige Lieferanten

Das alles macht den Einkauf komplex wie nie. „Der weltweite Markt hat sich von einem Käufer- in einen Verkäufermarkt gewandelt“, erläutert Jan Grauthoff, Sales Director for Intelligent Spend Management bei SAP. „Viele Chief Procurement Officer fragen sich, wie sie unter den veränderten Bedingungen effizient und zu guten Konditionen einkaufen können.“ Und Tamara Braun ergänzt: „Der wichtigste Schritt, diese Probleme anzugehen, ist die Digitalisierung der Einkaufswege.“ Ohne durchgängig digitale Procurement-Prozesse, ließen sich die vielen Faktoren, die für einen erfolgreichen Einkauf verantwortlich seien, nicht im Sinne einer optimalen Fertigung und Auslieferung koordinieren. „Das ist das Feedback, das ich von vielen CPOs erhalte: Beschaffungsorganisationen mit einer digitalen Roadmap können ihre Herausforderungen viel besser meistern als andere“, so die SAP-Expertin.

Jan Grauthoff empfiehlt Procurement-Verantwortlichen, vor allem an zwei Hebeln anzusetzen: Zum einen sei es erforderlich, ein durchdachtes Lieferanten-Management zu betreiben. „Firmen brauchen eine Lösung, mit der sie ihre Lieferanten effizient und ganzheitlich verwalten können, vom Identifizieren neuer Lieferanten bis zum Abruf von Zertifikaten.“

Wirtschaftliche Verluste und Image-Schäden vermeiden

Zum anderen müssten Einkäufer in der Lage sein, die vielfältigen Risiken, die sich durch die schnell verändernden Herausforderungen in der Lieferkette ergeben, beim Einkauf wie auch in den Verpflichtungen den eigenen Kunden gegenüber, zu berücksichtigen: Wann ist ein bestimmtes Produkt wieder lieferfähig? Ist mit Verzögerungen bei der Verschiffung zu rechnen? Gibt es Alternativprodukte? Sind bestimmte Lieferanten in stark von Kinderarbeit betroffenen Regionen aktiv? Das Ziel sei, die Einkäufer bestmöglich zu informieren, so dass sie fundierte Entscheidungen treffen können, die die Unterbrechungen der Lieferkette verhindern. Nur so könnten sie wirtschaftliche, wie auch Rufschäden von ihrem Unternehmen abwenden.