Auf Deregulierung und Marktliberalisierung folgt im Energiesektor die digitale Transformation – mit disruptiven Veränderungen. Diese stellen alle Energieversorger vor enorme Herausforderungen. Sieben Trends zeigen, wohin sich die Branche entwickelt.
Die Manager der Energieversorgungsunternehmen (EVU) schätzen laut der „Stadtwerkestudie 2019“ des Beratungsunternehmens EY zufolge die wirtschaftliche Lage ihres Unternehmens positiv ein. Gegenüber dem Vorjahr haben sich die Erwartungen aus Sicht der Befragten sogar noch verbessert.
Der Grund für die optimistische Haltung liegt laut Studie in zusätzlichen Angeboten und Leistungen der EVU, die zum Teil in ganz neuen Geschäftsfeldern stattfinden. 60 Prozent von ihnen wollen sich deshalb mit dieser Aufgabe stark oder sehr stark auseinandersetzen.
Eine zentrale Rolle für die Entwicklung neuer Geschäftsfelder spielt dabei die Digitalisierung – sie wird von nahezu 90 Prozent der Befragten als Haupttreiber eingestuft. Das überrascht wenig, denn wie in vielen anderen Branchen führt die digitale Transformation auch im Energiesektor zu einem fundamentalen Wandel. Die folgenden sieben Trends zeigen auf, in welche Richtung sich der Utility-Sektor verändert und welche Chancen und Risiken sich daraus für die Energieversorgungsunternehmen ergeben.
Trend 1 – Customer Experience: beim Strom bedeutet Qualität Kundenorientierung
Digitale Technologien bieten neuartige Möglichkeiten, die Kundenbeziehungen effizienter und zugleich individueller zu gestalten. Bei den Energieversorgern machen Start-ups wie Sonnen in Deutschland und Bulb in Großbritannien dies vor und setzen Maßstäbe.
Dabei hinkte die Branche mit ihren lokalen Strukturen und staatlichen Wurzeln der Entwicklung insgesamt lange hinterher. Doch inzwischen haben sich die EVU angesichts des enormen Wettbewerbsdrucks und hohen Digitalisierungstempos längst auf veränderte und zugleich höhere Kundenerwartungen eingestellt. Beispiel: Kommunikation – dort nutzt vor allem die jüngere Klientel neben E-Mail auch soziale Medien wie Facebook, Twitter, Chat oder interaktive Portale, um mit Unternehmen in Kontakt zu treten. Wie auch immer Kunden mit einem Anbieter in Kontakt treten, sie erwarten eine schnelle Antwort. 89 Prozent der Teilnehmer einer SAP-Studie gaben an, innerhalb von 24 Stunden eine Rückmeldung vom Kundenservice zu erwarten. Angebote wie Chats erfordern darüber hinaus naturgemäß eine Kommunikation in Echtzeit. Für die Energieversorger bedeutet dies ganz andere Anforderungen hinsichtlich Verfügbarkeit, Antwortzeiten und Know-how der Mitarbeiter erfüllen zu müssen.
Auch die zunehmende Nutzung mobiler Endgeräte erfordert einen Ausbau des Service und verbesserte Prozesse. Vom Produktangebot bis hin zum Neuvertrag – alles soll nicht nur am PC, sondern auch in gleicher Qualität auf dem Smartphone oder Tablet verfügbar sein. Weltweite Trends wie Flexibilisierung der jüngeren Generation sowie Urbanisierung, Alterung und Interkulturalität der Gesellschaft erhöhen weiter den Druck, Angebotsportfolio und Prozesse anzupassen. Anbieter, die die Erwartungen ihrer Kunden nicht erfüllen, risikieren, diese zu verlieren: Laut SAP-Studie erklären 74 Prozent der Verbraucher, einen Anbieter bei schlechtem Kundenservice zu wechseln.
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Trend 2 – Dezentrale Stromerzeugung: vom Monopolverkäufer zum Kooperationspartner
Der Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch nimmt kontinuierlich zu. Er stieg laut Umweltbundesamt von 37,8 Prozent im Jahr 2018 auf 42,1 Prozent im vergangenen Jahr. Erzeugt wird dieser Ökostrom überwiegend in Klein- oder Kleinstanlagen, die weit verstreut über das gesamte Bundesgebiet liegen. Entsprechend verliert die Stromerzeugung in Großkraftwerken zunehmend an Bedeutung – Geschäftsmodelle, die auf der dezentralen Erzeugung mithilfe erneuerbarer Energien sowie Kraft-Wärme-Kopplung beruhen, gewinnen an Bedeutung. Getrieben wird diese Entwicklung durch die Digitalisierung: Erst digitale Technologien wie Smart Metering ermöglichen es, Energieangebot und -nachfrage, Speicherkapazitäten und Netzwerkressourcen in Einklang zu bringen.
Experten betrachten diesen Sektor für die Energieversorger als eines der vielversprechendsten Geschäftsfelder für die Zukunft. EVU agieren hier überwiegend als Kooperationspartner für Endkunden und Komponentenlieferanten und profitieren von einer hohen Kundennachfrage, ihrem hohen technischen Know-how sowie von der regionalen Nähe, die etwa viele Stadtwerke zu ihren Kunden aufweisen. In seiner Stadtwerkestudie 2019 geht das Beratungsunternehmen Ernst & Young davon aus, dass der Wertschöpfungsanteil in diesem Geschäftsfeld für die EVU rund 30 Prozent beträgt.
Trend 3 – Smart Home & Smart City: Lebensqualität durch digitale Vernetzung
Die intelligente Vernetzung der Haustechnik ist ein weiterer Trend, der die Utility-Branche prägt: Von der smarten Waschmaschine, die automatisch mit günstigem Nachtstrom wäscht, bis hin zum Rolladen, der sich automatisch mit dem Stand der Sonne hebt beziehungsweise senkt – dies alles gesteuert über ein zentrales Dashboard auf dem Smartphone. Die Produkte, die sich im Sinne einer höheren Wohnqualität digital vernetzen und intelligent steuern lassen wächst beständig.
Der EY-Studie zufolge sehen mehr als ein Drittel der befragten EVU in diesem Geschäftsfeld ökonomisches Potenzial, bei dem allerdings serviceorientierte Dienstleistungen in den Vordergrund rücken. Die EVU werden in diesem Bereich künftig mit großen Online-Händlern und Vermittlern von Dienstleistungen konkurrieren müssen. So ist Google in den USA beispielsweise bereits als Energiehändler etabliert, der unter anderem Solaranlagen vertreibt und aufgrund bereits vorhandener Daten schnell kundenindividuelle Angebote erstellen kann. Die kommunale Verzahnung und regionale Nähe kann sich für viele Energieversorger dabei jedoch als Wettbewerbsvorteil erweisen.
Trend 4 – Smart Metering und IoT: intelligente Services auf Datenbasis
Intelligente Messsysteme – Smart Meter – halten zunehmend Einzug in private Haushalte. Sie speichern den Stromverbrauch, sind in der Lage, verbrauchte wie auch erzeugte Energie (etwa eines Solarmoduls) optimal zu steuern und die erhobenen Daten an den Stromanbieter zu senden. Dadurch entstehen immer größere Mengen an Daten, die über das Internet zu den Versorgern gelangen.
Doch es sind nicht nur smarte Messgeräte, sondern zudem die Sensoren von Geräten und Maschinen überall im gewerblichen, öffentlichen und privaten Bereich, die ihre Daten über die Netze an die Versorger senden (Internet of Things). Für die Teilnehmer der EY-Studie haben sowohl das Smart Metering als auch das Internet of Things eine herausragende Relevanz für die Entwicklung neuartiger Produkte und Dienstleistungen. Doch dafür müssen die EVU nicht nur die Infrastruktur für den Datentransfer bereitstellen, sondern auch ein Backend, in dem die Daten gespeichert, verarbeitet und analysiert werden.
Ob ein Energieversorger erfolgreich ist, innovative Technologien für neue Geschäftsmodelle zu nutzen, hängt nicht zuletzt vom Fortschritt der digitalen Transformation im eigenen Unternehmen ab, wie die Befragten selbst einräumen.
Trend 5 – Elektromobilität: Klimaschutz schafft neue Geschäftsfelder
Deutschland wird seine Klimaschutzziele nicht ohne den umfassenden Ausbau der Elektromobilität umsetzen können. So kündigte der Volkswagen-Konzern bereits Ende 2018 den letzten Produktstart auf einer Verbrennerplattform für das Jahr 2026 an. Die Energieversorger versprechen sich infolge dieser Entwicklung von diesem Geschäftsfeld hohe Umsätze beim Stromverkauf, aber auch aufgrund zusätzlicher Dienstleistungen rund um die Elektromobilität.
Infrage kommen neben Verkauf und Abrechnung von Ladestrom etwa der Betrieb einer öffentlichen Ladesinfrastrukur sowie Services wie der Betrieb digitaler Mobilitätsplattformen, Mobility-as-a-Service oder auch das Flottenmanagement. Aktuell sind bereits 80 Prozent der Energieversorger, die diesem Geschäftsfeld eine hohe Bedeutung beimessen, im Bereich der Elektroladeinfrastruktur aktiv. Auch hier können viele Energieversorger auf regionale Nähe und Ortskenntnisse sowie technisches Know-how und Erfahrung im Stromgeschäft als Wettbewerbsvorteil setzen.
Trend 6 – ITK-Services und Infrastruktur: Von Glasfaserkabel bis digitales Fernsehen
Die existierende Leitungsinfrastruktur im Energiesektor ist prädestiniert dafür, gleichzeitig als Netz für den Datentransfer zu fungieren. Auf dieser Grundlage sind eine Vielzahl digitaler Geschäftsmodelle denkbar. Davon können etwa Geschäftskunden profitieren, die die digitale Steuerung von Produktionsabläufen – Stichwort Industrie 4.0 – und den Bezug von Energieleistungen aus einer Hand erhalten. Die meisten Energieversorger, die bereits in diesem Geschäftsfeld aktiv sind, fokussieren sich aktuell auf den Infrastrukturausbau, wie das Verlegen von Glasfaserkabel. Bei konsequenter Fortführung der Pläne wird jedoch die Hälfte dieser Firmen in den kommenden beiden Jahren zusätzliche Dienstleistungen wie Breitband oder digitales Fernsehen anbieten.
Trend 7 – Sektorkonvergenz: Chance durch Kooperation
Mega-Trends wie die Digitalisierung, die Folgen der Deregulierung und Marktliberalisierung sowie die zunehmende Bedeutung des Klimaschutzes führen zu tiefgreifenden Veränderungen im Energiesektor. Traditionelle Geschäftsmodelle wie die zentrale Stromerzeugung in Großkraftwerken verlieren zugunsten einer dezentralen Stromerzeugung mithilfe erneuerbarer Energien an Bedeutung. Dadurch eröffnen sich für die EVU neue Geschäftsfelder – wie die oben genannten Trends zeigen.
Zugleich drängen Marktteilnehmer anderer Branchen wie Telekommunikations (TK)-Unternehmen, IT-Dienstleister, die Automobilindustrie, Immobilienverwaltung und viele mehr in die einstige EVU-Hoheitsbereiche, um sich ihrerseits neue Geschäftsfelder zu erschließen. Kurz: die Sektorgrenzen weichen auf und es kommt zu Überschneidungen zwischen der Energiewirtschaft und anderen Branchen, die wiederum Grundlage für weitere neue Geschäftsmodelle sind. Wieder einmal fungiert die Digitalisierung hier als Haupttreiber.
Die Sektorkonvergenz beschreibt genau dieses Phänomen des Zusammenwachsens bisher getrennt agierender Sektoren zu einer wertschöpfenden Einheit. Das größte ökonomische Potenzial sehen die EVU der EY-Studie zufolge bei den oben aufgeführten Geschäftsfeldern nahe am Kerngeschäft, wie dezentrale Stromerzeugung, Smart Metering, Elektromobilität usw. Voraussetzung für die Erschließung dieses Potenzials ist es laut Studie aus Sicht der Energieversorger, Win-Win-Gemeinschaften unterschiedlicher Art zu gründen. Die Komplexität der Fragestellung in Kombination mit einer hohen Veränderungsgeschwindigkeit macht es aus ihrer Sicht geradezu zwingend notwendig, mit einer Vielzahl von Partnern zu kooperieren und sich auf die eigenen Stärken zu fokussieren. Entsprechend handeln auch bereits zwei Drittel der Befragten nach dem Prinzip der Win-Win-Gemeinschaften. Nur ein Drittel will möglichst die gesamte Wertschöpfung im eigenen Unternehmen behalten.